Erste Hilfe von
Unternehmen
In Zeiten der Krise stellen viele Unternehmen ihre Fertigung um auf systemrelevante Produkte, gründen Initiativen oder leihen Arbeitskräfte aus, wo es nötig ist. Was sie zur Hilfe bewegt.
09/2020
Wo sonst ein rot-weißes Fahnenmeer rauscht und mehr als 54.000 Menschen den Spielern des FC Liverpool zujubeln, herrschte ab März 2020 absolute Stille. Wann im Stadion an der Anfield Road wieder Fußballspiele eines der erfolgreichsten Vereine der englischen Premier League vor Publikum möglich sein werden, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar.Schon bald nach Unterbrechung des Spielbetriebs verkündete Vorstandschef Peter Moore, dass die Ordnerinnen und Ordner, die sonst im Stadion die Fans in Zaum halten, lokalen Supermärkten ihre Hilfe anbieten – etwa um das Kundenaufkommen zu regulieren oder um älteren Menschen mit ihren Einkäufen zu helfen.
Unternehmerische Verantwortung
So anpackend und unterstützend reagierten auch viele Wirtschaftsunternehmen auf die Coronavirus-Krise. Manche stellten Teile ihrer Produktion um und fertigen systemrelevante Waren, manche haben ihre Entwicklungskapazitäten erweitert und bringen nun gänzlich neue Produkte auf den Markt. Andere helfen, um die eigenen, durch die Krise unterbeschäftigten Mitarbeitenden auszulasten. Oder sie verknüpfen die Hilfe mit dem Kern ihrer Marke und haben dabei einen nachhaltigen Imagegewinn im Blick. Auch wenn die Grundmotivation für Hilfe in Zeiten der Coronavirus-Krise solidarisch und sozial sein mag: Der Aufwand und die Kosten der Unterstützungsmaßnahmen sind für viele Unternehmen hoch.
Wie wichtig es für Unternehmen ist, ihre aktuelle Verantwortung zu erkennen, weiß Britta Heer von Edelman Deutschland. Für die Studie „Edelman Trust Barometer 2020“ befragte die Forschungs- und Analyseberatung des Unternehmens –Edelman Intelligence – in einem Special Report zum Thema „Markenvertrauen und die Coronavirus-Pandemie“ rund 12.000 Menschen weltweit. „Die Menschen fordern nicht nur von der Regierung Antworten auf das Virus, sondern auch von Unternehmen mit ihren Marken“, sagt Heer. Weltweit erwarten 89 Prozent der Menschen, dass Marken ihre Produktion auf Produkte verlagern, die zu Lösungen im Kontext der Krise beitragen. Heer ergänzt: „Wer den Verbrauchern jetzt nicht zuhört und nicht auf ihre Bedürfnisse eingeht, setzt ihr Vertrauen nachhaltig aufs Spiel.“ Was daraus entsteht, sind facettenreiche Lösungsansätze. Es sind die vielen kleinen und großen Ideen, die etwas bewirken – oft nicht weniger als echte Hilfe und wirtschaftlichen Beistand in einer ungewissen Zeit.
Stärken gezielt eingesetzt
Rückblickend betrachtet, erscheint es für viele Unternehmen naheliegend, dass sie ihre Produktion umgestellt haben – insbesondere, wenn die gefragten Produkte perfekt zu ihrem Kerngeschäft passen. Ein Beispiel ist der brasilianische Schuhproduzent Alpargatas. Das Unternehmen ist Marktführer im lateinamerikanischen Schuhsektor und Hersteller der weltweit bekannten Flip-Flop-Marke Havaianas. Alpargatas spendete rund 20.000 Paar abwaschbare Spezialschuhe an öffentliche Krankenhäuser in verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten. Die Schuhe wurden in den Havaianas-Fabriken anstelle von Flip-Flops hergestellt. Um eine reibungslose und hygienisch sichere Produktion zu gewährleisten, wurden die Alpargatas-Angestellten geschult und der komplette Herstellungsprozess umstrukturiert. Zudem produzierte und spendete das Unternehmen 1,3 Millionen Schutzmasken und verteilte unter anderem rund 500.000 Hilfspakete mit essentiellen Produkten an besonders gefährdete Gemeinschaften in den fünf Bundeshauptsttädte São Paulo, Rio de Janeiro, Brasília, Salvador und Belo Horizonte sowie an Städte im Bundesstaat Paraíba.
Gründliche Reinigung und damit auch Virenbeseitigung ist die Kernkompetenz des deutschen Reinigungstechnikunternehmens Kärcher. Die Dampfreiniger des Weltmarktführers (Umsatz 2019: 2,58 Milliarden Euro) sollen laut einem unabhängigem Labortest bei korrekter Anwendung Coronaviren entfernen – sie sind damit eine Alternative zum Einsatz von Desinfektionsmitteln im privaten, industriellen und gewerblichen Bereich. Darüber hinaus stellte das Familienunternehmen seine Fertigung in einem seiner Werke in Süddeutschland, in Sulzdorf im nördlichen Baden-Württemberg, um. Wo normalerweise Reinigungsmittel hergestellt werden, produziert Kärcher jetzt Substanzen für die Handdesinfektion.
Wir haben uns ganz bewusst entschieden, kleinere Einrichtungen zu unterstützen.
„Wir konnten unser breites Know-how und die Erfahrung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzen“, sagt Hartmut Jenner, Vorstandsvorsitzender von Kärcher. Einen Teil des Handdesinfektionsmittels verteilte das Unternehmen an mehr als 50 lokale Rettungsdienste, Tafeln sowie Alten- und Pflegeeinrichtungen. „Das Thema Handhygiene ist ja bei der Bekämpfung des Coronavirus allgegenwärtig, und vor allem für die Risikogruppen elementar“, so Jenner. In den allermeisten Spendenaufrufen habe vor allem der Gesundheits- und Kliniksektor im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden. „Darum haben wir uns ganz bewusst dafür entschieden, kleinere Einrichtungen zu unterstützen – das war für uns eine Selbstverständlichkeit.“
Kompetenzen kreativ genutzt
In Deutschland haben mehr als ein Drittel der Unternehmen ihre Produkt- oder Leistungspalette im Zuge der Coronavirus-Krise erweitert, so das Ergebnis einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Kantar im Auftrag des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums. Darunter sind auch solche, die sich in ganz neue Felder vorgewagt haben. So stellte etwa der Heiztechnikspezialist Viessmann aus dem hessischen Allendorf Teile seiner Produktion auf Beatmungsgeräte um. Innerhalb von drei Tagen entwickelten die Ingenieurinnen und Ingenieure des Familienunternehmens (Umsatz 2019: 2,65 Milliarden Euro) im Austausch mit Medizinerinnen und Medizinern einen Prototyp – basierend auf Komponenten, die in Gasheizungen verwendet werden. Nach drei Wochen war das erste Gerät fertig, produziert auf der Fertigungslinie der Viessmann-Gaswandgeräte. Das Verfahren für eine Sonderzulassung zur Herstellung medizintechnischer Geräte läuft derzeit noch (Stand Juni 2020). Und auch die Produktion ruht vorerst. Sollte es wieder zu vermehrten Ansteckungen und schweren Verläufen kommen und insbesondere in Entwicklungsländern keine Trendwende geben, könnte Viessmann bis zu 600 Geräte pro Tag herstellen.
Hilfe in höchster Geschwindigkeit leistete das US-amerikanische Unternehmen Composite Resources. Die Muttergesellschaft des Motorsportteams CORE Autosport, die eigentlich Präzisionsteile aus Verbundwerkstoffen für Branchen wie Luft- und Raumfahrt oder den medizinischen Bereich herstellt, produziert nun Gesichtsmasken aus einem Polyester-Baumwoll-Gemisch für den Alltagsgebrauch sowie Schutzvisiere aus durchsichtigem Vinyl. Als Gründer Jon Bennett einen Fernsehbericht über Krankenschwestern sah, die ihre Gesichtsmasken selbst nähen mussten, handelte er. „Innerhalb von 36 Stunden entwarfen wir den Prototyp, beschafften das Rohmaterial, starteten eine E-Commerce-Website und begannen mit der Organisation der Fertigungslinie“, sagt Morgan Brady, geschäftsführender Partner bei Composite Resources. Die für die Produktion erforderlichen Anlagen waren bereits vorhanden, ebenso die Fähigkeiten der Mitarbeitenden. Dadurch fielen lediglich Kosten für das Rohmaterial an. Im März 2020 begann die Produktion durch mehr als zwanzig Angestellte in zwei Schichten. „Mit der Maskenproduktion helfen wir der Allgemeinheit und sichern die Weiterbeschäftigung unserer Mitarbeitenden“, sagt Brady.
Hilfe für die eigene Zielgruppe
Im Kampf gegen das Virus engagiert sich auch der Kräuterlikörhersteller Jägermeister. Das Unternehmen aus dem niedersächsischen Wolfenbüttel spendete 50.000 Liter reinen Alkohol an das Städtische Klinikum in der Nachbarstadt Braunschweig. In der dortigen Klinikapotheke wurde das Ethanol – so die chemische Bezeichnung – zu Desinfektionsmitteln weiterverarbeitet. Eine befristete Anordnung der Behörden schuf Anreize für Spenden dieser Art: Jägermeister musste dafür weder Zollabgaben noch Alkoholsteuer entrichten. Doch die international beliebte Marke – rund 80 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet Jägermeister im Ausland – ist auch über Grenzen hinaus helfend aktiv. Mit der globalen Initiative #SaveTheNight werden Künstlerinnen und Künstler sowie Barkeeper mit Spenden und Microfunding aus aller Welt unterstützt. Ergänzt werden diese durch eine Reihe neuer Online-Unterhaltungsangebote, die von Jägermeister konzipiert und angeboten werden. So schafft Jägermeister eine Plattform für Einnahmen innerhalb des „Ökosystems Nachtleben“.
Der Zusammenhalt mit der Community ist uns eine Herzensangelegenheit.
„Wir nehmen diese Initiative sehr ernst. Sie ist unbürokratisch und selbstverständlich“, sagt Christopher Ratsch, Vorstand der Mast-Jägermeister SE. Das Ziel sei, beide Seiten des Nachtlebens zu unterstützen – diejenigen, die eine direkte Hilfe für ihren Lebensunterhalt brauchen, ebenso wie diejenigen, die zu Hause bleiben müssen anstatt in Clubs und Bars zu strömen, sich mit Freunden zu treffen, um eine gute Zeit in der Gemeinschaft zu verbringen. „Wir wollen mit der Initiative #SaveTheNight etwas an die für uns so wichtige Community zurückgeben. Der Zusammenhalt ist uns eine Herzensangelegenheit“, so Ratsch.
Perspektiven für Mitarbeitende
Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen: Um den Lebensmitteleinzelhandel in der Krise zu unterstützen und die Weiterbeschäftigung seiner Mitarbeitenden während der Zeit des eingeschränkten Restaurantbetriebs zu ermöglichen, ging McDonald’s in Deutschland eine Personalpartnerschaft mit den Supermarktketten Aldi-Süd und Aldi-Nord ein. McDonald’s und seine knapp 230 Franchisenehmer beschäftigen in rund 1.500 Restaurants in Deutschland insgesamt mehr als 60.000 Mitarbeiter. Angestellte der Fastfoodkette, die durch die zeitweise Schließung der Restaurants aufgrund der Corona-Pandemie betroffen waren, konnten von Aldi befristet angestellt werden und im Verkauf oder Logistikbereich des Discounters arbeiten. Laut dem Vorstandsvorsitzenden von McDonald’s Deutschland, Holger Beeck, war das eine klassische Win-win-Situation: „Unsere Mitarbeiter konnten – wenn sie das wollten – weiter beschäftigt werden. Gleichzeitig profitierte Aldi von zusätzlichen Ressourcen.“
Vertrauen in Marken
- 89 Prozent der Menschen weltweit erwarten, dass Unternehmen ihre Produktion auf Produkte verlagern, die zu Lösungen im Kontext der Krise beitragen.
- 55 Prozent der Befragten denken, dass Unternehmen schneller und effektiver auf die Pandemie reagieren als die Regierung.
- 90 Prozent fordern die Zusammenarbeit von Unternehmen mit der Regierung und Hilfsorganisationen, um die Krise zu bewältigen.