Einblick

Erste Hilfe von Unternehmen

In Zeiten der Krise stellen viele Unternehmen ihre Fertigung um auf systemrelevante Produkte, gründen Initiativen oder leihen Arbeitskräfte aus, wo es nötig ist. Was sie zur Hilfe bewegt.

09/2020

Im Werk der 575 Factory in der ungarischen Hauptstadt Budapest fertigen Näherinnen Gesichtsschutzmasken für den Alltagsgebrauch. Normalerweise stellt das Unternehmen Sportbekleidung her.Anadolu Agency/Kontributor/Getty Images

Wo sonst ein rot-wei­ßes Fah­nen­meer rauscht und mehr als 54.000 Men­schen den Spie­lern des FC Liver­pool zuju­beln, herrsch­te ab März 2020 abso­lu­te Stil­le. Wann im Sta­di­on an der Anfield Road wie­der Fuß­ball­spie­le eines der erfolg­reichs­ten Ver­ei­ne der eng­li­schen Pre­mier League vor Publi­kum mög­lich sein wer­den, war zu die­sem Zeit­punkt nicht absehbar.Schon bald nach Unter­bre­chung des Spiel­be­triebs ver­kün­de­te Vor­stands­chef Peter Moore, dass die Ord­ne­rin­nen und Ord­ner, die sonst im Sta­di­on die Fans in Zaum hal­ten, loka­len Super­märk­ten ihre Hilfe anbie­ten – etwa um das Kun­den­auf­kom­men zu regu­lie­ren oder um älte­ren Men­schen mit ihren Ein­käu­fen zu helfen.

Unternehmerische Verantwortung

So anpa­ckend und unter­stüt­zend reagier­ten auch viele Wirt­schafts­un­ter­neh­men auf die Corona­virus-Krise. Man­che stell­ten Teile ihrer Pro­duk­ti­on um und fer­ti­gen sys­tem­re­le­van­te Waren, man­che haben ihre Ent­wick­lungs­ka­pa­zi­tä­ten erwei­tert und brin­gen nun gänz­lich neue Pro­duk­te auf den Markt. Ande­re hel­fen, um die eige­nen, durch die Krise unter­be­schäf­tig­ten Mit­ar­bei­ten­den aus­zu­las­ten. Oder sie ver­knüp­fen die Hilfe mit dem Kern ihrer Marke und haben dabei einen nach­hal­ti­gen Image­ge­winn im Blick. Auch wenn die Grund­mo­ti­va­ti­on für Hilfe in Zei­ten der Corona­virus-Krise soli­da­risch und sozi­al sein mag: Der Auf­wand und die Kos­ten der Unter­stüt­zungs­maß­nah­men sind für viele Unter­neh­men hoch.

Wie wich­tig es für Unter­neh­men ist, ihre aktu­el­le Ver­ant­wor­tung zu erken­nen, weiß Brit­ta Heer von Edel­man Deutsch­land. Für die Stu­die „Edel­man Trust Baro­me­ter 2020“ befrag­te die For­schungs- und Ana­ly­se­be­ra­tung des Unter­neh­mens –Edel­man Intel­li­gence – in einem Spe­cial Report zum Thema „Mar­ken­ver­trau­en und die Corona­virus-Pan­de­mie“ rund 12.000 Men­schen welt­weit. „Die Men­schen for­dern nicht nur von der Regie­rung Ant­wor­ten auf das Virus, son­dern auch von Unter­neh­men mit ihren Mar­ken“, sagt Heer. Welt­weit erwar­ten 89 Pro­zent der Men­schen, dass Mar­ken ihre Pro­duk­ti­on auf Pro­duk­te ver­la­gern, die zu Lösun­gen im Kon­text der Krise bei­tra­gen. Heer ergänzt: „Wer den Ver­brau­chern jetzt nicht zuhört und nicht auf ihre Bedürf­nis­se ein­geht, setzt ihr Ver­trau­en nach­hal­tig aufs Spiel.“ Was dar­aus ent­steht, sind facet­ten­rei­che Lösungs­an­sät­ze. Es sind die vie­len klei­nen und gro­ßen Ideen, die etwas bewir­ken – oft nicht weni­ger als echte Hilfe und wirt­schaft­li­chen Bei­stand in einer unge­wis­sen Zeit.

Vom Flip-Flop zum Spezialschuh: Das Unternehmen Alpargatas stellte einen Teil der Produktion um.Havaianas

Stärken gezielt eingesetzt

Rück­bli­ckend betrach­tet, erscheint es für viele Unter­neh­men nahe­lie­gend, dass sie ihre Pro­duk­ti­on umge­stellt haben – ins­be­son­de­re, wenn die gefrag­ten Pro­duk­te per­fekt zu ihrem Kern­ge­schäft pas­sen. Ein Bei­spiel ist der bra­si­lia­ni­sche Schuh­pro­du­zent Alpar­ga­tas. Das Unter­neh­men ist Markt­füh­rer im latein­ame­ri­ka­ni­schen Schuh­sek­tor und Her­stel­ler der welt­weit bekann­ten Flip-Flop-Marke Havai­a­n­as. Alpar­ga­tas spen­de­te rund 20.000 Paar abwasch­ba­re Spe­zi­al­schu­he an öffent­li­che Kran­ken­häu­ser in ver­schie­de­nen bra­si­lia­ni­schen Bun­des­staa­ten. Die Schu­he wur­den in den Havai­a­n­as-Fabri­ken anstel­le von Flip-Flops her­ge­stellt. Um eine rei­bungs­lo­se und hygie­nisch siche­re Pro­duk­ti­on zu gewähr­leis­ten, wur­den die Alpar­ga­tas-Ange­stell­ten  geschult und der kom­plet­te Her­stel­lungs­pro­zess umstruk­tu­riert. Zudem pro­du­zier­te und spen­de­te das Unter­neh­men 1,3 Mil­lio­nen Schutz­mas­ken und ver­teil­te unter ande­rem rund 500.000 Hilfs­pa­ke­te mit essen­ti­el­len Pro­duk­ten  an beson­ders gefähr­de­te Gemein­schaf­ten in den fünf Bun­des­hauptst­täd­te São Paulo, Rio de Janei­ro, Bra­sí­lia, Sal­va­dor und Belo Hori­zon­te sowie an Städ­te im Bun­des­staat Paraíba.

Gründ­li­che Rei­ni­gung und damit auch Viren­be­sei­ti­gung ist die Kern­kom­pe­tenz des deut­schen Rei­ni­gungs­tech­nik­un­ter­neh­mens Kär­cher. Die Dampf­rei­ni­ger des Welt­markt­füh­rers (Umsatz 2019: 2,58 Mil­li­ar­den Euro) sol­len laut einem unab­hän­gi­gem Labor­test bei kor­rek­ter Anwen­dung Coro­na­vi­ren ent­fer­nen – sie sind damit eine Alter­na­ti­ve zum Ein­satz von Des­in­fek­ti­ons­mit­teln im pri­va­ten, indus­tri­el­len und gewerb­li­chen Bereich. Dar­über hin­aus stell­te das Fami­li­en­un­ter­neh­men seine Fer­ti­gung in einem sei­ner Werke in Süd­deutsch­land, in Sulz­dorf im nörd­li­chen Baden-Würt­tem­berg, um. Wo nor­ma­ler­wei­se Rei­ni­gungs­mit­tel her­ge­stellt wer­den, pro­du­ziert Kär­cher jetzt Sub­stan­zen für die Handdesinfektion.

Porsche Consulting/Jörg Eberl

Wir haben uns ganz bewusst entschieden, kleinere Einrichtungen zu unterstützen.

Hartmut Jenner
Vorstandsvorsitzender von Kärcher

„Wir konn­ten unser brei­tes Know-how und die Erfah­rung unse­rer Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter nut­zen“, sagt Hart­mut Jen­ner, Vor­stands­vor­sit­zen­der von Kär­cher. Einen Teil des Hand­des­in­fek­ti­ons­mit­tels ver­teil­te das Unter­neh­men an mehr als 50 loka­le Ret­tungs­diens­te, Tafeln sowie Alten- und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen. „Das Thema Hand­hy­gie­ne ist ja bei der Bekämp­fung des Corona­virus all­ge­gen­wär­tig, und vor allem für die Risi­ko­grup­pen ele­men­tar“, so Jen­ner. In den aller­meis­ten Spen­den­auf­ru­fen habe vor allem der Gesund­heits- und Kli­nik­sek­tor im Zen­trum der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit gestan­den. „Darum haben wir uns ganz bewusst dafür ent­schie­den, klei­ne­re Ein­rich­tun­gen zu unter­stüt­zen – das war für uns eine Selbstverständlichkeit.“

Kompetenzen kreativ genutzt

In Deutsch­land haben mehr als ein Drit­tel der Unter­neh­men ihre Pro­dukt- oder Leis­tungs­pa­let­te im Zuge der Corona­virus-Krise erwei­tert, so das Ergeb­nis einer Umfra­ge des Markt­for­schungs­un­ter­neh­mens Kant­ar im Auf­trag des deut­schen Bun­des­wirt­schafts­mi­nis­te­ri­ums. Dar­un­ter sind auch sol­che, die sich in ganz neue Fel­der vor­ge­wagt haben. So stell­te etwa der Heiz­tech­nik­spe­zia­list Viess­mann aus dem hes­si­schen Allen­dorf Teile sei­ner Pro­duk­ti­on auf Beatmungs­ge­rä­te um. Inner­halb von drei Tagen ent­wi­ckel­ten die Inge­nieu­rin­nen und Inge­nieu­re des Fami­li­en­un­ter­neh­mens (Umsatz 2019: 2,65 Mil­li­ar­den Euro) im Aus­tausch mit Medi­zi­ne­rin­nen und Medi­zi­nern einen Pro­to­typ – basie­rend auf Kom­po­nen­ten, die in Gas­hei­zun­gen ver­wen­det wer­den. Nach drei Wochen war das erste Gerät fer­tig, pro­du­ziert auf der Fer­ti­gungs­li­nie der Viess­mann-Gas­wand­ge­rä­te. Das Ver­fah­ren für eine Son­der­zu­las­sung zur Her­stel­lung medi­zin­tech­ni­scher Gerä­te läuft der­zeit noch (Stand Juni 2020). Und auch die Pro­duk­ti­on ruht vor­erst. Soll­te es wie­der zu ver­mehr­ten Anste­ckun­gen und schwe­ren Ver­läu­fen kom­men und ins­be­son­de­re in Ent­wick­lungs­län­dern keine Trend­wen­de geben, könn­te Viess­mann bis zu 600 Gerä­te pro Tag herstellen.

Der Heiztechnikspezialist Viessmann stellte in der Krise Beatmungsgeräte her. Viessmann

Hilfe in höchs­ter Geschwin­dig­keit leis­te­te das US-ame­ri­ka­ni­sche Unter­neh­men Com­po­si­te Resour­ces. Die Mut­ter­ge­sell­schaft des Motor­sport­teams CORE Auto­sport, die eigent­lich Prä­zi­si­ons­tei­le aus Ver­bund­werk­stof­fen für Bran­chen wie Luft- und Raum­fahrt oder den medi­zi­ni­schen Bereich her­stellt, pro­du­ziert nun Gesichts­mas­ken aus einem Poly­es­ter-Baum­woll-Gemisch für den All­tags­ge­brauch sowie Schutz­vi­sie­re aus durch­sich­ti­gem Vinyl. Als Grün­der Jon Ben­nett einen Fern­seh­be­richt über Kran­ken­schwes­tern sah, die ihre Gesichts­mas­ken selbst nähen muss­ten, han­del­te er. „Inner­halb von 36 Stun­den ent­war­fen wir den Pro­to­typ, beschaff­ten das Roh­ma­te­ri­al, star­te­ten eine E‑Com­mer­ce-Web­site und began­nen mit der Orga­ni­sa­ti­on der Fer­ti­gungs­li­nie“, sagt Mor­gan Brady, geschäfts­füh­ren­der Part­ner bei Com­po­si­te Resour­ces. Die für die Pro­duk­ti­on erfor­der­li­chen Anla­gen waren bereits vor­han­den, eben­so die Fähig­kei­ten der Mit­ar­bei­ten­den. Dadurch fie­len ledig­lich Kos­ten für das Roh­ma­te­ri­al an. Im März 2020 begann die Pro­duk­ti­on durch mehr als zwan­zig Ange­stell­te in zwei Schich­ten. „Mit der Mas­ken­pro­duk­ti­on hel­fen wir der All­ge­mein­heit und sichern die Wei­ter­be­schäf­ti­gung unse­rer Mit­ar­bei­ten­den“, sagt Brady.

Hilfe für die eigene Zielgruppe

Im Kampf gegen das Virus enga­giert sich auch der Kräu­ter­li­kör­her­stel­ler Jäger­meis­ter. Das Unter­neh­men aus dem nie­der­säch­si­schen Wol­fen­büt­tel spen­de­te 50.000 Liter rei­nen Alko­hol an das Städ­ti­sche Kli­ni­kum in der Nach­bar­stadt Braun­schweig. In der dor­ti­gen Kli­ni­kapo­the­ke wurde das Etha­nol – so die che­mi­sche Bezeich­nung – zu Des­in­fek­ti­ons­mit­teln wei­ter­ver­ar­bei­tet. Eine befris­te­te Anord­nung der Behör­den schuf Anrei­ze für Spen­den die­ser Art: Jäger­meis­ter muss­te dafür weder Zoll­ab­ga­ben noch Alko­hol­steu­er ent­rich­ten. Doch die inter­na­tio­nal belieb­te Marke – rund 80 Pro­zent des Umsat­zes erwirt­schaf­tet Jäger­meis­ter im Aus­land – ist auch über Gren­zen hin­aus hel­fend aktiv. Mit der glo­ba­len Initia­ti­ve #Save­The­Night wer­den Künst­le­rin­nen und Künst­ler sowie Bar­kee­per mit Spen­den und Micro­fun­ding aus aller Welt unter­stützt. Ergänzt wer­den diese durch eine Reihe neuer Online-Unter­hal­tungs­an­ge­bo­te, die von Jäger­meis­ter kon­zi­piert und ange­bo­ten wer­den. So schafft Jäger­meis­ter eine Platt­form für Ein­nah­men inner­halb des „Öko­sys­tems Nachtleben“.

Porsche Consulting/Marco Prosch

Der Zusammenhalt mit der Community ist uns eine Herzensangelegenheit.

Christopher Ratsch
Vorstand der Mast-Jägermeister SE

„Wir neh­men diese Initia­ti­ve sehr ernst. Sie ist unbü­ro­kra­tisch und selbst­ver­ständ­lich“, sagt Chris­to­pher Ratsch, Vor­stand der Mast-Jäger­meis­ter SE. Das Ziel sei, beide Sei­ten des Nacht­le­bens zu unter­stüt­zen – die­je­ni­gen, die eine direk­te Hilfe für ihren Lebens­un­ter­halt brau­chen, eben­so wie die­je­ni­gen, die zu Hause blei­ben müs­sen anstatt in Clubs und Bars zu strö­men, sich mit Freun­den zu tref­fen, um eine gute Zeit in der Gemein­schaft zu ver­brin­gen. „Wir wol­len mit der Initia­ti­ve #Save­The­Night etwas an die für uns so wich­ti­ge Com­mu­ni­ty zurück­ge­ben. Der Zusam­men­halt ist uns eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit“, so Ratsch.

Perspektiven für Mitarbeitende

Außer­ge­wöhn­li­che Situa­tio­nen erfor­dern außer­ge­wöhn­li­che Maß­nah­men: Um den Lebens­mit­tel­ein­zel­han­del in der Krise zu unter­stüt­zen und die Wei­ter­be­schäf­ti­gung sei­ner Mit­ar­bei­ten­den wäh­rend der Zeit des ein­ge­schränk­ten Restau­rant­be­triebs zu ermög­li­chen, ging McDonald’s in Deutsch­land eine Per­so­nal­part­ner­schaft mit den Super­markt­ket­ten Aldi-Süd und Aldi-Nord ein. McDonald’s und seine knapp 230 Fran­chise­neh­mer beschäf­ti­gen in rund 1.500 Restau­rants in Deutsch­land ins­ge­samt mehr als 60.000 Mit­ar­bei­ter. Ange­stell­te der Fast­food­ket­te, die durch die zeit­wei­se Schlie­ßung der Restau­rants auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie betrof­fen waren, konn­ten von Aldi befris­tet ange­stellt wer­den und im Ver­kauf oder Logis­tik­be­reich des Dis­coun­ters arbei­ten. Laut dem Vor­stands­vor­sit­zen­den von McDonald’s Deutsch­land, Hol­ger Beeck, war das eine klas­si­sche Win-win-Situa­ti­on: „Unse­re Mit­ar­bei­ter konn­ten – wenn sie das woll­ten – wei­ter beschäf­tigt wer­den. Gleich­zei­tig pro­fi­tier­te Aldi von zusätz­li­chen Ressourcen.“

Zahlen, Daten, Fakten

Vertrauen in Marken

Menschen erwarten in der Coronavirus-Krise, dass Unternehmen verantwortlich handeln. Das ergab der globale „Edelman Trust Barometer 2020 Special Report: Markenvertrauen und die Coronavirus-Pandemie“ (vom März 2020) der Forschungs- und Analyseberatung Edelman Intelligence, die Teil der globalen Kommunikationsberatungsgesellschaft Edelman ist.
  • 89 Prozent der Menschen weltweit erwarten, dass Unternehmen ihre Produktion auf Produkte verlagern, die zu Lösungen im Kontext der Krise beitragen.
  • 55 Prozent der Befragten denken, dass Unternehmen schneller und effektiver auf die Pandemie reagieren als die Regierung.
  • 90 Prozent fordern die Zusammenarbeit von Unternehmen mit der Regierung und Hilfsorganisationen, um die Krise zu bewältigen.
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