Einblick

„Die Informations-
flut darf Ärzte nicht überlasten“

Interview: Der Schweizer Notfallmediziner Aristomenis Exadaktylos fordert bessere Vorbereitung auf Epidemien.

09/2020

Prof. Dr. med. Aristomenis (Aris) Exadaktylos leitet eine der größten Notaufnahmen der Schweiz. Mehr als 50.000 Patienten jährlich werden am Universitären Notfallzentrum des Inselspitals in Bern behandelt. Alessandro Della Valle

Herr Professor Exadaktylos, als Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums in Bern haben Sie den Ausbruch der Corona-Pandemie unmittelbar mitbekommen. Wie gut haben die Krankenhäuser in Europa Ihrer Meinung nach darauf reagiert?

Aris Exadaktylos: Wir sind im Februar 2020 auf dem falschen Fuß erwischt worden, weil wir geglaubt haben, dass sich die Covid-19-Epidemie nicht zu einer Pandemie entwickeln würde. Meiner Meinung nach haben wir uns dabei zu sehr auf die Erfahrungen mit vorherigen Epidemien wie der Vogelgrippe, der Schweinegrippe oder der MERS-Epidemie verlassen, die für uns Europäer relativ glimpflich verlaufen sind. Als es in Norditalien zu einem großflächigen Ausbruch kam, traf das die Kliniken dort teilweise völlig unvorbereitet. Das ist so, als ob einem eine Handgranate in den Händen explodiert. In anderen Ländern konnte man zumindest den Vorsprung nutzen, um sich auf den drohenden Patienten-Ansturm vorzubereiten. Wir in Bern haben innerhalb kurzer Zeit von einem kontrollierten System, in dem elektive Patienten und Notfallpatienten parallel behandelt wurden, beinahe auf ein Kriegsszenario umgestellt. Das bedeutete aber auch, dass wir viel improvisieren mussten.

Wenn ein Klinikbereich für eine solche Situation gerüstet sein sollte, ist es dann nicht die Notaufnahme?

Exadaktylos: Die Notaufnahmen in der Schweiz und in Europa haben in den letzten Jahren einen enormen Anstieg der Patientenzahlen verzeichnet. Sie sind Versorgungsstationen von Menschen mit lebensgefährlichen Verletzungen und Erkrankungen sowie Sammelstellen für jede Art „sozialmedizinischer“ Fälle. Da geht es um Drogenmissbrauch, psychische Probleme, aber auch um kleinere Verletzungen bei Menschen, die keinen Hausarzt haben. Das zu organisieren, ist schon unter normalen Umständen eine Herausforderung. Deswegen sind alle Krankenhäuser mit einer gut strukturierten Notaufnahme auch besser in der Lage, auf eine Pandemie, wie wir sie aktuell erleben, zu reagieren. Schließlich muss ein Patient mit einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall oder einer lebensgefährlichen Verletzung genauso behandelt werden wie vor der Corona-Pandemie. 

Wie schafft man es also, das alles zu bewältigen?

Exadaktylos: Das ist nur mit einer funktionierenden Infrastruktur zu schaffen, angefangen bei automatischen Türen bis hin zum IT-System. In erster Linie geht es um Sicherheit. Das ist wie bei einem modernen Auto, das die Fehler des Menschen korrigiert. Wir schaffen zum einen Redundanzen, indem wir zusätzliche Hintergrunddienste installieren, die dafür sorgen, dass falsche Entscheidungen revidiert werden. Zum anderen gehen wir verantwortungsvoll mit unseren Ressourcen um und setzen sie da ein, wo sie auch wirklich gebraucht werden. Dazu kommen auch noch eine ansprechende zweckgerechte Haptik und Optik der Arbeitsumgebung. Wenn Sie in einem dunklen Loch Notfallmedizin betreiben, wo die Luft ohnehin zum Schneiden ist, zu wenig Leute arbeiten und die IT nicht funktioniert, dann kommen Sie in einer Stresssituation extrem schnell an Ihre Grenzen. 

Krankenhausmitarbeiter sind während der Pandemie enormen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Wie gehen Sie damit um?

ExadaktylosWir haben es mit einer hochansteckenden Krankheit zu tun. Eine Situation wie in Italien, wo sich auch medizinisches Personal angesteckt hat und dann verstorben ist, verursacht natürlich einen hohen psychischen Stress bei allen in diesem Bereich Beschäftigten. Ganz wichtig ist es, dem Personal und den Patienten samt den Angehörigen das Gefühl zu geben, dass sie sich an einem sicheren, kontrollierten Ort befinden und nicht auf dem Vorhof zur Hölle. Wenn Mitarbeiter improvisieren müssen und sich Müllsäcke als Schutz über den Kopf oder die Füße ziehen, dann ist das zwar spannend für Social Media, aber massiv kontraproduktiv für den ganzen Betrieb. Wenn man als Mitarbeiter das Gefühl hat, dass man von seiner Institution nicht geschützt wird, dann verliert man das Vertrauen. Und Menschen, die kein Vertrauen haben, sind auf Dauer viel weniger bereit, unter schwierigen Bedingungen die extra Meile zu gehen. Das war bei uns in Bern glücklicherweise nicht der Fall. Wir waren gut ausgerüstet und haben allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Gefühl des Schutzes und der Sicherheit geben können. Und das nicht, weil wir besonders wohlhabend sind, sondern weil wir uns in Friedenszeiten immer wieder mit dem Thema biologische Katastrophen auseinandergesetzt haben und über eine enorme Unterstützung innerhalb des Inselspitals verfügen. Das hat die Moral extrem gestärkt. 

Das ist sicherlich in solchen Zeiten auch nötig. Was motiviert Ihre Mitarbeiter noch?

Exadaktylos: Am Anfang ist die Motivation sehr hoch. Es wird ja keiner Notfallmediziner oder Notfallpfleger, weil er oder sie dazu gezwungen wird. Die Kollegen arbeiten in der Notfallaufnahme, weil sie das wollen, also ist per se eine sehr hohe intrinsische Motivation vorhanden. Ein Feuerwehrmann hat ja auch keine Angst, wenn es brennt, er hat Respekt. Aber er weiß, dass er genau für diesen Fall ausgebildet worden ist. Wenn Sie dann noch merken, dass man im Team arbeitet, die Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen und auch die Ärzte aus den anderen Abteilungen inklusive Professoren und Chefärzten an vorderster Front in dieser Virusschlacht mit anpacken, dann motiviert das. Die Mitarbeiter müssen auch merken, dass man sich aktiv um sie kümmert, sodass sie sich nur um ihren Job kümmern müssen. Da geht es um vermeintlich ganz banale Sachen, wie dass das Essen auf die Station gebracht wird oder dass Parkplätze und Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. 

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos, Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern Alessandro Della Valle

Die Digitalisierung hilft uns, nichts zu übersehen.

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos
Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern

Mussten Sie die Abläufe in Ihrer Notaufnahme anpassen?

Exadaktylos: Ja, ganz erheblich. Zunächst haben wir Covid-Teams gebildet, die sich nur mit diesen Patienten beschäftigt haben. Parallel haben wir eine Qualitätskontrolle installiert, um zu sehen, ob unsere Vorgehensweise auch funktioniert. Wir hatten ja keinerlei Erfahrung mit der Krankheit. Besonders wichtig sind deshalb auch Reporting-Systeme, mit denen die Patientendaten dokumentiert und abrufbar gemacht werden. Bei unserem Notfall-Cockpit, dessen Grundlagen wir schon vor einigen Jahren zusammen mit Porsche Consulting gelegt haben, werden die Zahlen so aufbereitet, dass die Mitarbeiter sie schnell erfassen und verstehen können. Dieses Visualisieren der Daten hat uns extrem geholfen, unsere Prozesse anzupassen und sie stetig zu verbessern.  

Wo hilft Ihnen die Digitalisierung ganz konkret bei der täglichen Arbeit?

Exadaktylos: Sie hilft dabei, nichts zu übersehen und in jedem Moment die für den Patienten relevante Information herausfiltern zu können. Man darf bei der ganzen Jagd nach dem Coronavirus andere Fälle nicht vergessen, zum Beispiel wenn ein Patient eine Sepsis durch ein infiziertes Knie hat. So etwas haben wir über digitale Systeme immer auf dem Schirm. Das ist dann so ähnlich, wie wenn ein Auto per Warnsignal einen schnellen Abfall des Reifendrucks meldet. Die Informationsflut nimmt ständig zu. Das darf aber nicht zu einer Informationsüberlastung führen. Wir kennen das Problem aus der Anästhesie. Würde man bei den Monitoren, die ständig piepen, irgendwann mal den Alarm wegdrücken, merkt man nicht mehr schnell genug, wenn es dem Patienten plötzlich schlechter geht. Je besser digitale Systeme werden, umso präziser verstehen sie, welche Information in diesem Moment für den behandelnden Arzt relevant ist. Wenn man keine Prozesse installiert, wann etwas gemeldet wird, dann funktioniert das vielleicht, wenn die Notfallversorgung normal läuft, aber wenn es richtig kracht, verliert man die Kontrolle. 

In der Notfallaufnahme, die als erste Anlaufstelle für Patienten oft überlaufen ist, ist Kommunikation ein wesentliches Thema. Nach welchen Regeln haben Sie diese organisiert?

Exadaktylos: Wir haben schon relativ früh von einer verbalen auf eine elektronische Kommunikation umgestellt. Jede Verordnung eines Arztes wird digital erfasst und weitergegeben. Das war nicht bei allen Mitarbeitern beliebt, aber gerade zeigen sich die enormen Vorteile. Etwa dass sich die Bewegungen der Mitarbeiter auf der Station verringern, weil jeder an seinem Platz bleiben und dort die Nachrichten empfangen kann. Damit konnten wir das Social Distancing einhalten und effizienter arbeiten, da die Informationen sehr schnell geflossen sind. 

Wir haben uns zu lange in Sicherheit gewiegt.

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos
Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern

Welche längerfristigen Schlüsse ziehen Sie aus der Corona-Pandemie?

Exadaktylos: Wir haben uns zu lange in einer trügerischen Sicherheit gewiegt. Wir sind dabei, diese Krise zu bewältigen, weil Österreich, die Schweiz und Deutschland über ausreichende finanzielle Mittel und funktionierende Gesundheitssysteme verfügen. Aber wir bewältigen so einen Lockdown definitiv nicht jedes Jahr. Das Gesundheitssystem wird von vielen Politikern nicht besonders geliebt und geschätzt und ist immer wieder von harten Einsparungen betroffen. Da müssen wir uns wirklich überlegen, ob das ein Zukunftsmodell ist, falls wir jetzt in ein Jahrzehnt der Seuchen eintreten, in dem wir um jedes Krankenhausbett dankbar sein werden.  

Das klingt nicht sehr ermutigend …

Exadaktylos: Wir brauchen eine weltweite Vernetzung im Kampf gegen die Pandemien. Trotz aller Kritik bin ich überzeugt, dass das nur über die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, machbar ist. Es darf nicht wieder passieren, dass wir erst mit Verzögerung zu Daten und Informationen kommen. Wir brauchen Transparenz, internationale Frühwarnsysteme und einen Austausch über Therapien. Jeden Tag, den ein System Zeit hat, sich auf etwas vorzubereiten, rettet Menschleben. Was passiert, wenn dies nicht gegeben ist, sieht man in Italien. Dort ist keine Zeit gewesen, sich auf die Pandemie einzustellen. Deshalb muss die WHO gestärkt werden. Aktuell sind viele internationale Organisationen wie zahnlose Tiger. Sie können zwar Länder ermahnen, haben aber keine Befugnis, Sanktionen zu verhängen oder Maßnahmen zu ergreifen. Auch da muss ein Umdenken stattfinden. 

Zum nächsten Thema gehenInnovation
schlägt Virus