Wasserstoff – Treibstoff für die Zukunft?
Die Erwartungen sind groß, die Technologien vorhanden und erprobt: Gelingt jetzt der Start in die Wasserstoffwirtschaft? Noch fehlen die Vernetzung der Akteure und etablierte Geschäftsmodelle.
09/2020
Sprung ins Jahr 2030. Die Corona-Pandemie liegt lange zurück, die Wirtschaft hat sich erholt, aber auch verändert. Nachhaltigkeit heißt das Gebot der Stunde. Und das chemische Element mit der Ordnungszahl 1 hat einen festen Platz eingenommen im Energiemix vieler Länder in Europa, Amerika und Asien: Wasserstoff. Im Verkehr, in der Industrie und in der Gebäudetechnik hat er sich etabliert. Als Speicher für grünen Strom und als sauberer Treibstoff für den Stadtverkehr ist er schon nicht mehr wegzudenken. Der Vorlauf der Technologie war lang. In Schwung kam der H2-Siegeszug nur ein Jahrzehnt zuvor.
Zurück ins Jetzt. Die Anzeichen, dass diese Vision zur Realität wird, mehren sich. Im Jahr 2020 haben die Europäische Union und Deutschland ihre Wasserstoffstrategien für das kommende Jahrzehnt beschlossen und Fördermittel bereitgestellt. Und es gibt immer mehr Anwendungsfälle für effiziente Wasserstoffnutzung, insbesondere in Industrie und Verkehr.
Eine realistische Vision?
Woran fehlt es nun noch? Was muss geschehen, um der Nutzung von Wasserstoff endgültig und nachhaltig zum Durchbruch zu verhelfen? Zum Beispiel gilt es jetzt, die wesentlichen Akteure zu vernetzen – von der Erzeugung über die Speicherung und Distribution bis zu den Herstellern wasserstoffbetriebener Fahrzeuge und Anlagen sowie den gewerblichen und privaten Nutzern. Zugleich fehlt es noch an einer einheitlichen und transparenten Bepreisung – etwa über eine zentrale Börse, wie beim Strom. Und auf der technischen Seite muss der Anteil des „grünen“, per Elektrolyse und mit regenerativen Energien erzeugten Wasserstoffs weiter steigen.
Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können sich etwa wasserstoffbetriebene Brennstoffzellen-Heizungen und Lkw mit Wasserstoffantrieb auf breiter Front etablieren. Die chemische Industrie fände verlässliche Abnehmer für den Stoff, der dort oft als Reaktionsprodukt entsteht. Und Stahlerzeuger könnten nach der Umstellung ihrer Hochöfen von der Bekohlung auf Wasserstoff aufgrund der geringeren CO2-Abgaben erheblich günstiger und zudem umweltschonender produzieren.
Die Vorteile von Wasserstoff
- Energiewirtschaft: Speicherung und bedarfsgerechte Bereitstellung von durch Wind-, Wasser- oder Sonnenenergie erzeugtem Strom.
- Infrastruktur: Neues Geschäftsfeld, beispielsweise für Häfen, Tankstellen, Energieversorger und kommunale Versorger.
- Industrie: Erreichen von Nachhaltigkeitszielen, Kostenersparnis durch Vermeidung von Sanktionen und Abgaben (CO2-Steuer).
- Transport und Logistik: Reduktion von CO2-Emissionen und Lärm, größere Reichweiten durch kompakte Speicherfähigkeit.
Japan als Vorbild
Als Leitbild für die Umsetzung von Wasserstoffstrategien kann Japan dienen. 2017 setzte sich die Nation das Ziel, bis 2030 eine globale Liefer- und Abnehmerkette vollständig aufzubauen – mit 800.000 Brennstoffzellenautos, 1.200 Bussen und 10.000 Gabelstaplern allein in Japan. Die Gebäudetechnik ist schon in Teilen umgestellt: Seit 2009 wurden rund 300.000 kleine Blockheizkraftwerke auf Brennstoffzellenbasis installiert, bis 2030 sollen es mehr als fünf Millionen sein. Sie liefern Wärme und Strom für Haushalte, aber auch für die beliebten „konbini“. Das sind Mini-Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet sind und konstanten Bedarf an Energie in Form von Wärme und Strom haben – eine ideale Anwendung für Brennstoffzellen.
Das Beispiel Japan zeigt: Die Wasserstoffwirtschaft hat das Potenzial zur nachhaltigen Energieerzeugung inklusive Einhaltung der CO2-Emissionsziele. Und sie könnte einen „Boost“ in vielen Industriebranchen erzeugen, die Bausteine für diese neue Technologie entwickeln, einsetzen und exportieren. Nach einer aktuellen Studie des VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) eröffnet sich für den weltweiten Maschinen- und Anlagenbau ein Marktpotenzial von über 300 Milliarden Euro pro Jahr, wenn die Unternehmen gezielt „grüne“ Technologien entwickeln. Das entspricht 12 bis 15 Prozent des weltweiten Gesamtumsatzes in der Branche – oder dem aktuellen Gesamtumsatz des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus. Wasserstoffaffine Innovationen, so die Studie, bieten hier sehr großes Potenzial.
Die Vorteile des Stoffs sind lange bekannt: Der Energieträger ist vor allem an Chemiestandorten vorhanden, seine Lagerung und Verteilung stellen kein großes Problem dar, und die „Verbraucher“, wie zum Beispiel Brennstoffzellen und adaptierte Verbrennungsmotoren, sind ebenfalls erprobt. Seit mehr als zwanzig Jahren wird über das Thema diskutiert, doch noch kam der Wasserstoffkreislauf einfach nicht in Schwung.
Trotz Grundlagen fehlende Vernetzung
Aktuell sieht es aber so aus, als könnte der Startschuss fallen. Christian Dittmer-Peters, Partner von Porsche Consulting, sagt: „Jetzt kommt es auf drei wesentliche Faktoren an: Transparenz, beispielsweise über die Herkunft und die aktuell verfügbaren Mengen von Wasserstoff, klare Regularien etwa zum Handel des Gases und – am allerwichtigsten – eine Vernetzung der Beteiligten. Denn Wasserstoff kann nur dann auf breiter Basis zum Einsatz kommen, wenn sich ein Netzwerk mit entsprechenden Geschäftsmodellen etabliert. Das umfasst neben Infrastruktur und Technik auch ganz neue Serviceangebote und Dienstleistungen.“
Genau hier hakt es noch. Dittmer-Peters beschreibt die aktuelle Konstellation als eine Pattsituation, in der die verschiedenen Akteure jeweils auf andere Beteiligte in der Prozesskette warten: „Aktuell sind Investitionen in die Wasserstofferzeugung und ‑verteilung, in Tankstellen und Verteilzentren notwendig. Dazu sind auch viele Unternehmen bereit. Damit sich die beteiligten Partner verlässlich engagieren und in die gleiche Richtung gehen, müssen sie sich vernetzen und langfristig tragfähige Geschäftsmodelle entwickeln.“
Auch für diese Entwicklung stehen die Chancen zurzeit so gut wie nie. „Das Potenzial ist enorm, denn es gibt zahlreiche Lücken in der Wertschöpfungskette, die noch besetzt werden müssen“, so Dittmer-Peters. Für etablierte Unternehmen im heutigen Energiemix, etwa aus der petrochemischen Industrie, sei noch ganz und gar nicht klar, welche Rolle sie künftig einnehmen werden. Erzeuger? Lieferant? Oder doch eher Abnehmer? Und welche neuen Partner oder Wettbewerber positionieren sich?
Duisport: H2-Infrastruktur für die Binnenhäfen
Ganz unterschiedliche Akteure investieren aktuell in konkrete Anwendungsfälle von Wasserstoff – zum Beispiel Duisport, der größte Binnenhafen und zugleich die zentrale Logistikdrehscheibe Europas. Für den Duisburger Hafen am Rhein ist die Wasserstoffnutzung ein wichtiger Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie, deshalb gehört er auch zu den Beteiligten des Joint Ventures RH2INE (Rhine Hydrogen Integration Network of Excellence). „Dieses Projekt hat die Einführung wasserstoffbetriebener Binnenschiffe entlang des Rhein-Alpen-Korridors und den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur in den Rheinhäfen bis 2030 zum Ziel“, so Erich Staake, Vorstandsvorsitzender von Duisport. Die EU fördert das Forschungsvorhaben zu technologischen und gesetzlichen Voraussetzungen für die Wasserstoff-Binnenschifffahrt zwischen Rotterdam und Genua mit einer halben Million Euro.
Die Farben des Wasserstoffs
Wasserstoff für die Stahlerzeugung
Ähnlich ambitioniert ist das Gemeinschaftsprojekt des Stahlproduzenten Thyssenkrupp Steel Europe und des Energieversorgers RWE. Am niedersächsischen Kraftwerksstandort Lingen/Emsland plant RWE den Bau eines Elekrolyseurs zur Erzeugung von „grünem“ Wasserstoff. Genutzt werden soll dieser dann unter anderem von Deutschlands größtem Stahlerzeuger für die Roheisenherstellung, und zwar am Standort Duisburg. Der 100-MW-Elektrolyseur wird in der Lage sein, pro Stunde 1,7 Tonnen Wasserstoff zu erzeugen. Das bedeutet:
Thyssenkrupp Steel kann pro Jahr 50.000 Tonnen klimaneutralen Stahl produzieren und zugleich Kosten sparen, weil CO2-Abgaben entfallen. Bis 2022 soll die Umstellung, die einen ganz erheblichen Klimaschutzeffekt mit sich bringt, umgesetzt werden.
Das Vorhaben ist Teil der Initiative Get H2, eines Zusammenschlusses von Unternehmen und Forschungsinstitutionen, die einen wettbewerbsorientierten Wasserstoffmarkt in Deutschland etablieren wollen. Den Anfang machte das „Projekt Lingen“, in dem acht Partner entlang der Sektoren Energie, Industrie, Verkehr und Wärme kooperieren. „Entscheidend ist jetzt, die Technik nicht nur in kleinen F&E‑Projekten zu erproben, sondern sie auch mit größeren Projekten in einem ganzheitlichen Ansatz zur Serienreife zu bringen. Hierzu wollen wir mit unserem Projekt einen wesentlichen Beitrag leisten“, so Jörg Müller, Geschäftsführer von Enertrag, einem der beteiligten Unternehmen. Das Beispiel zeige die Bedeutung einer durchgängigen Vernetzung entlang der H2-Wertschöpfungskette, so Christian Dittmer-Peters: „Wenn die richtigen Leute von der Erzeugung über die Speicherung und Verteilung bis zur Nutzung von Wasserstoff an einen Tisch kommen und ein Zusammenarbeitsmodell finden, profitieren alle.“ Der Anfang ist gemacht.