Mobilität

Software, Chips und Batterien

Warum beim elektrischen Auto der Zukunft die Software an erster Stelle stehen muss, beschreibt Dr. Hagen Radowski, Senior Partner der Managementberatung Porsche Consulting. Er ist überzeugt, dass eine engere Zusammenarbeit von Automobilherstellern und Halbleiterindustrie bessere Endprodukte verspricht.

12/2023

Blick zurück im Zeitentunnel: Vor fast 140 Jahren entstanden die ersten Autos mit Verbrennungsmotoren. Mit dem Wechsel zur Elektromobilität und der Dominanz von Halbleitern und Software spielen branchenfremde Akteure eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des Fahrzeugs der Zukunft – des Software-Defined Vehicle.Porsche Consulting/Thomas Kuhlenbeck

Neh­men wir das Jahr 1886 und Carl Benz. Er erfand den ers­ten Ver­bren­nungs­mo­tor für das Auto. Oder schau­en wir auf das Jahr 1912. Da führ­te Henry Ford die Fließ­band­fer­ti­gung im Auto­mo­bil­bau ein. Von wel­chem Datum wir auch immer aus­ge­hen, es sind inzwi­schen mehr als 100 Jahre ver­gan­gen. Nun haben welt­weit erst­mals neue Akteu­re die Bühne betre­ten und den bewähr­ten tra­di­tio­nel­len Ansatz ver­wor­fen, zuerst ein Auto zu ent­wer­fen, dann elek­tro­ni­sche Kom­po­nen­ten hin­zu­zu­fü­gen und am Ende eine Soft­ware zu ent­wi­ckeln, die vor­gibt, all diese sehr unter­schied­li­chen Kom­po­nen­ten unter einer Benut­zer­ober­flä­che zu ver­ei­nen. Damit steht die Auto­mo­bil­in­dus­trie vor der wohl größ­ten Umwäl­zung ihrer Geschichte.

Heute wird ein moder­nes voll­elek­tri­sches Fahr­zeug mit einer Viel­zahl soge­nann­ter elek­tro­ni­scher Steu­er­ge­rä­te aus­ge­stat­tet. Die Funk­tio­nen die­ser Gerä­te rei­chen von der Ent­rie­ge­lung der Türen bis hin zum auto­no­men Fah­ren. Und die elek­tro­ni­schen Bau­tei­le stam­men von ver­schie­dens­ten Zulie­fe­rern. Es wird nicht nur immer schwie­ri­ger, all diese Gerä­te in einer Soft­ware­platt­form zu ver­ei­nen, son­dern auch, diese Platt­form in ange­mes­se­nen Abstän­den mit ver­tret­ba­ren Daten­men­gen zu aktua­li­sie­ren. Es wird nicht aus­rei­chen, die­sen Pro­zess mit einem tech­nisch-evo­lu­tio­nä­ren Ansatz zu begleiten.

Auf der Suche nach einem Begriff, der am bes­ten beschreibt, was wirk­lich gesche­hen muss hilft ein Buch, das vor 61 Jah­ren vom bedeu­ten­den Wis­sen­schafts­phi­lo­so­phen und ‑his­to­ri­ker Tho­mas Kuhn geschrie­ben wurde. Es hat den eher lang­wei­li­gen Titel „Die Struk­tur wis­sen­schaft­li­cher Revo­lu­tio­nen“. Darin hat Kuhn den Begriff geprägt, der so tref­fend und akku­rat beschreibt, wie die „alte Auto­mo­bil­in­dus­trie“ jetzt han­deln muss, um bestehen zu können.

Der Begriff heißt: Para­dig­men­wech­sel. Nach Kuhns Defi­ni­ti­on kön­nen sich durch ein neues Para­dig­ma neue, aber rele­van­te Fra­gen zu alten Daten stel­len. Im Para­dig­men­wech­sel betreibt man nicht nur „Rät­sel­lösen“ mit dem vori­gen Para­dig­ma, son­dern ändert auch die Spiel­re­geln und den „Arbeits­plan“, wie man zu neuen Lösun­gen kommt. Um die Grund­la­gen des Para­dig­men­wech­sels zu erklä­ren, ließ Kuhn sein Publi­kum 10 Sekun­den lang eine Ente betrachten …

… und sagte dann: Sie sehen keine Ente, Sie sehen einen Hasen von der Seite. Von die­sem Moment an sah nie­mand mehr eine Ente, alle sahen einen Hasen. „Wir müs­sen die­sel­be Sache aus einer neuen Per­spek­ti­ve betrach­ten.“ Über­setzt für die Auto­mo­bil­in­dus­trie heißt das: Sie muss die Dinge anders angehen.

Der Code ist das neue Spaltmaß

Die Her­stel­ler müs­sen weg davon, das Auto zunächst mit einem per­fek­ten Spalt­maß, also einem gleich­mä­ßi­gen Abstand zwi­schen den Ble­chen an der Außen­sei­te des Fahr­zeugs, zu kon­stru­ie­ren, dann eine schier end­lo­se Anzahl von Steu­er­ge­rä­ten hin­zu­zu­fü­gen, um dann zu ver­su­chen, die pas­sen­de Soft­ware zu schrei­ben. Die Soft­ware­ent­wick­lung muss statt­des­sen an ers­ter Stel­le ste­hen. Oder mit ande­ren Wor­ten: „Tadel­lo­ser Code ist das neue Spalt­maß.“ Die­ser neue Ansatz für die Auto­mo­bil­in­dus­trie hat einen Namen: das Soft­ware-Defi­ned Vehic­le oder kurz SDV.

Warum ist das alles not­wen­dig? Viele der neuen Akteu­re haben bewie­sen, dass sich mit einem soft­ware­zen­trier­ten Ansatz die Soft­ware, die sich nor­ma­ler­wei­se schnel­ler wei­ter­ent­wi­ckelt, ein­fa­cher von der sich lang­sa­mer ent­wi­ckeln­den Hard­ware tren­nen lässt. Gleich­zei­tig stei­gert man die Fle­xi­bi­li­tät beim Aus­tausch von Hard­ware. Die neuen Regeln für das SDV-Para­dig­ma nach Tho­mas Kuhn lau­ten des­halb wie folgt: Erläu­te­re die Prin­zi­pi­en. Ergän­ze das um die Anwen­der­er­fah­run­gen und die Fähig­keit, eine gefun­de­ne Lösung auch sofort einzusetzen.

Ein groß­ar­ti­ges Bei­spiel, um den Ein­fluss von Anwen­der­er­fah­run­gen zu ver­an­schau­li­chen, stammt von Tesla: Kun­den beschwer­ten sich regel­mä­ßig dar­über, dass sie ihre Hunde nicht im Auto las­sen konn­ten, wenn sie ein­kau­fen gin­gen, weil es im Auto zu heiß für den Hund wurde oder ande­re Leute auf die Besit­zer zuka­men und sie dafür beschimpf­ten, dass sie ihren Hund in einem über­hitz­ten Auto zurück­lie­ßen. Des­halb hat Tesla den DOG-Modus ein­ge­führt. Wenn die­ser Modus akti­viert ist, wer­den die Fens­ter her­un­ter­ge­las­sen, damit der Hund Luft bekommt, wäh­rend auf dem zen­tra­len Dis­play für jeden sicht­bar die Mel­dung „Mir geht es gut. Mein Besit­zer ist gera­de ein­kau­fen und kommt bald zurück“ erscheint.

Aber Soft­ware läuft immer auf Hard­ware. Hier kommt die Halb­lei­ter­indus­trie ins Spiel. Eben­so wie für das Schrei­ben guter Auto­soft­ware setzt man auch für Hard­ware und die Chip-Archi­tek­tur auf bewähr­te Ver­fah­ren. Fach­leu­te nen­nen dies die elek­tri­sche und elek­tro­ni­sche Archi­tek­tur oder kurz E/E‑Architektur. Es ist die soft­ware­ba­sier­te E/E‑Architektur, die das Soft­ware-Defi­ned Vehic­le erst mög­lich macht.

Die wich­tigs­ten Vor­aus­set­zun­gen für das Soft­ware-Defi­ned Vehic­le wer­den in der Halb­lei­ter­indus­trie geschaf­fen. In einem moder­nen bat­te­rie­be­trie­be­nen Fahr­zeug kom­men meh­re­re tau­send Chips zum Ein­satz. Wenn wir das mit den etwa 60 hoch indi­vi­dua­li­sier­ten Chips in einem Apple iPho­ne ver­glei­chen, sehen wir, dass wir davon noch weit ent­fernt sind. Viel­leicht ließe es sich schaf­fen, die Anzahl der Steu­er­ge­rä­te auf etwa ein Fünf­tel zu redu­zie­ren, jedoch mit einem höhe­ren Anteil an kun­den­spe­zi­fi­schen Chips. Aber wieso soll­te man sich diese Mühe über­haupt machen? Weil die Digi­ta­li­sie­rung und die Elek­tri­fi­zie­rung den Bedarf nach Chips in Autos wei­ter vor­an­trei­ben wer­den. Die Auto­mo­bil­in­dus­trie ist die Bran­che, für die die Halb­lei­ter­indus­trie in den nächs­ten Jah­ren am schnells­ten wach­sen muss. Und die Auto­mo­bil­her­stel­ler brau­chen mehr direk­te Part­ner­schaf­ten mit der Halb­lei­ter­indus­trie, um die­ses Wachs­tum zu bewerkstelligen.

Direkte Partnerschaften mit der Halbleiterindustrie

Ein pas­sen­des Bei­spiel stammt aus der Mobil­funk­bran­che: Durch eine beson­ders enge Zusam­men­ar­beit mit der Halb­lei­ter­indus­trie und die Direkt­ver­mark­tung konn­ten die Tele­fon­her­stel­ler von einem „stan­dar­di­sier­ten“ Ansatz nach dem Vor­bild Noki­as zu dem über­ge­hen, was wir heute in einem moder­nen iPho­ne von Apple sehen. Eine höhe­re Geschwin­dig­keit und Fle­xi­bi­li­tät im Ent­wick­lungs­pro­zess, nicht zu unter­schät­zen­de Kos­ten­ein­spa­run­gen und die Mög­lich­keit, die ver­füg­ba­re Chip­tech­no­lo­gie in Funk­tio­nen umzu­set­zen, für die Ver­brau­cher bereit sind zu zah­len. Alles das sind eini­ge der Vor­tei­le, die sich aus einer direk­ten Part­ner­schaft zwi­schen der Halb­lei­ter- und der Auto­mo­bil­in­dus­trie erge­ben. Aber es gibt auch eini­ge Unter­schie­de. Die Auto­mo­bil­in­dus­trie braucht vor allem Chips, die unter sehr anspruchs­vol­len Bedin­gun­gen „auto­taug­lich“ sind. Dafür gilt es, Trans­pa­renz zu schaf­fen und stra­te­gi­sche Inves­ti­tio­nen in Tech­no­lo­gien zu täti­gen, nach denen der Markt verlangt.

Es bedarf erheb­li­cher Anstren­gun­gen aller Auto­mo­bil­her­stel­ler, sich auf den Para­dig­men­wech­sel vor­zu­be­rei­ten und sich ihm zu stel­len. Aus die­sem Grund hat die Manage­ment­be­ra­tung Por­sche Con­sul­ting das Stra­te­gic Semi­con­duc­tor Manage­ment Frame­work ent­wi­ckelt. Das Modell hilft Unter­neh­men, umfas­sen­des Know-how im Bereich Halb­lei­ter zu erlan­gen und sich gleich­zei­tig die Aus­wir­kun­gen der Halb­lei­ter­be­schaf­fung zu ver­ge­gen­wär­ti­gen. Dies wie­der­um hilft, eine lang­fris­ti­ge Stra­te­gie für Halb­lei­ter zu ent­wi­ckeln. Und es erleich­tert den Aus­tausch mit der Halb­lei­ter­indus­trie, wenn man sich auf eine Spra­che einigt, die beide Sei­ten ver­ste­hen. Die­ses Modell fin­det in vie­len unter­schied­li­chen Bran­chen Anwen­dung, da eine Halb­lei­ter­stra­te­gie nicht nur in der Auto­mo­bil­bran­che drin­gend erfor­der­lich ist. Es ist jedoch die Auto­mo­bil­in­dus­trie, die vor den größ­ten Her­aus­for­de­run­gen steht.

Es ist nun an der Zeit, dass die Auto­mo­bil- und die Halb­lei­ter­indus­trie noch enger zusam­men­ar­bei­ten. Für die Auto­mo­bil­in­dus­trie wer­den drei Grö­ßen bestim­men, ob sie wett­be­werbs­fä­hig ist: Soft­ware, Chips und Bat­te­rien. In die­sen drei Dis­zi­pli­nen wol­len die Auto­mo­bil­her­stel­ler füh­rend sein. Das heißt nicht, dass sie nur ihre eige­nen Chips fer­ti­gen wol­len. Sie müs­sen mit der Halb­lei­ter­indus­trie jedoch in einer Weise zusam­men­ar­bei­ten, die zu bes­se­ren End­pro­duk­ten führt.

Über den Autor
Porsche Consulting/Jörg Eberl
Dr. Hagen Radowski, Senior Partner bei der Managementberatung Porsche Consulting, blickt auf mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung in der IT-Branche. Er promovierte im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Siegen. Nach Studien der Wirtschaftsinformatik in Stuttgart (BA) und der Betriebswirtschaftslehre in den USA (MBA) sowie Stationen bei Procter & Gamble und Otis Aufzüge war er 14 Jahre als Geschäftsführer bei einem internationalen IT- und Engineering-Beratungsunternehmen tätig. Danach folgten sieben Jahre für die Management- und IT-Beratung MHP als Partner sowie CEO der Tochtergesellschaft MHP Americas. Radowski gehört Porsche Consulting seit Oktober 2019 an, zunächst als President und CEO der US-Tochtergesellschaft Porsche Consulting, Inc. in Atlanta. Jetzt verantwortet er die internationalen Beratungsmandate im Bereich Halbleiter und die Betreuung der Volkswagen-Softwaretochter CARIAD.
Zum nächsten Thema gehen„Schneller in kleinen Schritten“