Reifeprüfung für Unternehmen
Ob Data Lake oder Data Cloud – auf den ersten Blick verfügen die meisten Unternehmen über eine respektable Sammlung digitaler Informationen. Doch allzu oft entpuppt sich der gespeicherte Fundus leider als kaum strukturierte, weitgehend unbearbeitete Rohware, sagt KI-Experte Kevin Lin im Interview.
12/2022
Zuerst zur Person: Wer eintauchen möchte in die Welt der Künstlichen Intelligenz, der findet in Kevin Lin einen faszinierenden Gesprächspartner. Ihm gelingt es, Menschen auf eine spannende virtuelle Reise in das digitale Leben von morgen mitzunehmen. Fesselnd wie ein Kinofilm. Doch Science-Fiction liegt ihm fern. Seine Beispiele sind real, spiegeln Erfahrungen mitten aus dem Wirtschaftsleben. Lin ist sachorientiert, arbeitet an konkreten Lösungen, die Unternehmen wirklich weiterhelfen. Stets behält er eine kritische Distanz zum Hype im Dorado der Daten.
1978 in Taiwan geboren, studierte Lin in seiner Heimat Maschinenbau und Halbleitertechnologie, bevor er nach Deutschland kam, um an der renommierten Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen sein Ingenieurstudium mit einer Vertiefung in der Luft- und Raumfahrt abzuschließen. Im Jahr 2004 brachte ihn ein Praktikum in der Fahrwerksentwicklung erstmals in Kontakt mit der Porsche AG. Wenig später arbeitete er als Versuchsingenieur im Entwicklungszentrum Weissach des Stuttgarter Sportwagenherstellers.
Während seiner Promotion an der Technischen Universität Darmstadt beschäftigte sich Lin intensiv mit der durch Künstliche Intelligenz (KI) gestützten Kausalanalyse bei den Themen Unternehmensstrategie und Unternehmensentscheidungen. Seit 2015 gehört Lin der Managementberatung Porsche Consulting an. Der Diplom-Ingenieur hat die fachliche Leitung für eine zehnköpfige Expertengruppe und verantwortet gemeinsam mit Associate Partner Fabian Schmidt das Fachgebiet Artificial Intelligence und Data Analytics. Privat – und vielleicht auch zum Ausgleich – hat Kevin Lin ein Faible für analoge Technologien: Mit Liebe zum Detail restauriert er einen Käfer – genauer gesagt: einen Volkswagen 1303 S, Baujahr 1973, 1,6 Liter Hubraum, 50 PS, lackiert in der Farbe Ravennagrün. „Das Auto ist fast fertig“, sagt Lin, „nur die Original-Innenausstattung braucht noch eine gründliche Überholung.“
Ob sich Wirtschaft und Industrie schon ausreichend mit den Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz beschäftigen und wie Datenanalyse zum Erfolg führt, dazu nimmt Kevin Lin in diesem Interview Stellung.
Welche Bedeutung haben Künstliche Intelligenz und Data Analytics für unsere Zukunft?
„Wir arbeiten einerseits mit immer größeren Datenmengen. Andererseits erwarten wir immer detailliertere Antworten auf schwierige Fragestellungen. Tabellenkalkulation via Excel und simple Mathematik reichen dafür nicht aus. Das gilt beispielsweise für das Erkennen von Trends oder das Aufspüren von Fehlerursachen bei komplexen Sachverhalten. Dafür braucht es digitale Werkzeuge, wie Maschinelles Lernen oder Künstliche Intelligenz. Wer das digitale Instrumentarium nicht beherrscht, wird die physische Welt zukünftig nur schwer interpretieren können. Wie effizient ein Unternehmen oder eine Organisation diese Werkzeuge für sich einsetzt, entscheidet über ihre Zukunftsfähigkeit. Davon bin ich fest überzeugt.“
Schöpfen Wirtschaft und Industrie die Möglichkeiten der KI und Data Analytics schon genug aus?
„Nein, absolut nicht. Vor allem in Deutschland stehen die Anwendungen von KI und Data Analytics noch ganz am Anfang. Aus meiner Sicht hat das drei signifikante Ursachen: Zum Ersten liegt vielerorts der Fokus nicht auf den richtigen Schwerpunkten. Viele Unternehmen schreiben sich gerne Künstliche Intelligenz auf die Agenda. In der Praxis wird aber übersehen, zunächst ein solides Fundament zu legen. Damit meine ich, grundlegende Voraussetzungen wie beispielsweise die notwendige Infrastruktur für KI-Anwendungen zu schaffen. Zweitens: Es mangelt nicht selten an der Qualität der vorhandenen Daten. Die Datenmenge alleine ist noch kein Kapital, obwohl das oft geglaubt wird. Und in vielen Unternehmen fehlt es an einer sauberen, einheitlichen Aufgabendefinition der Data Owner, die für die Pflege und Qualität verantwortlich sind. Helfen würde hier ein wirkungsvolles Management – die Steuerung durch firmenübergreifende Data Governance. Sie macht Vorgaben, kontrolliert die Einhaltung der Richtlinien und stellt so den betrieblichen Nutzen sicher. Die dritte Bremse, die den Fortschritt behindert, hat eine höchst sensible, diffizile Problematik. Es geht um die Art und Weise, wie Datenschutz begriffen wird. Der Schutz behindert eine effiziente Nutzung vorhandener Informationen, die wie Schätze in der Tiefe liegen, aber wegen rechtlicher Bedenken nicht geborgen werden dürfen.“
In welchen Branchen werden KI und Data Analytics bereits gut genutzt? Und in welchen Bereichen ist der Nachholbedarf besonders hoch?
„Retail ist ein Vorreiter. Denn im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen fand in Handel und Logistik eine besonders frühe Aneignung digitaler Systeme, wie beispielsweise E‑Commerce, statt. Die vorhandenen Daten erlauben uns, Transparenz zu schaffen und Verhaltensmuster zu erkennen. In öffentlichen Bereichen dagegen, wie zum Beispiel im Personennahverkehr, bremst vor allem die Regulatorik oder vielleicht auch der Unwille zu investieren die Einführung von Künstliche Intelligenz und Data-Analytics-Lösungen. Oft werden hier wichtige Nutzungsdaten erst gar nicht erhoben, obwohl in anderen Nationen mit ähnlichen Datenschutzanforderungen seit Langem praktische Lösungen existieren. Für Themen wie nutzungsbasierte Wartung oder Ausbauplanung der Infrastruktur fehlt somit die Grundlage.“
Wie aufwendig ist es für Unternehmen und Behörden, KI-Lösungen einzuführen?
„Unterschiedlich. Der Aufwand hängt in erster Linie von dem so genannten digitalen Reifegrad eines Unternehmens ab. Der muss geprüft werden. Als Managementberater schauen wir deshalb zunächst, ob ein tragfähiges Fundament bereits Teil der Unternehmenskultur ist. Wir prüfen Kernfaktoren wie die Datenqualität oder Data Literacy – also die Kompetenz, Daten bewerten und durchdacht einsetzen zu können. Ein weiterer Faktor ist der geschäftliche Mehrwert durch KI-gestützte Entscheidungsfindung. Danach richtet sich, welcher Aufwand investiert werden soll, um KI-Lösungen gewinnbringend für das Unternehmen zu entwickeln. Und es werden wissenschaftlich orientierte Fachleute benötigt. Das sind die Data Scientists. Sie haben die entscheidende Fähigkeit, menschliche Kreativität und KI-Leistungen so zu verbinden, dass der bestmögliche Output erzielt wird. Daher kämpfen allen voran die Tech-Giganten seit Jahren mit exorbitanten Gehaltsangeboten um solche KI-Talente.“
Was bedeutet die Einführung von KI für die Menschen im Arbeitsleben? Ändert sich die Kultur, gibt es Risiken für das Miteinander?
„Neue Technologien bedeuten immer: lernen und umlernen. Jetzt gilt es zu verstehen, welche Möglichkeiten sich durch KI und Data Analytics eröffnen. Und es gilt zu lernen, wie man diese Instrumente möglichst erfolgreich einsetzt. Keine Frage: Mit Neuerungen im Leben und insbesondere mit Veränderungen am Arbeitsplatz gehen fast immer auch Befürchtungen einher. Diese meist vorhersehbaren Reaktionen nehmen wir Berater sehr ernst. Akzeptanz schafft man nach unserer Erfahrung bei solchen Projekten am besten, wenn alle von der Veränderung betroffenen Menschen schon während des KI-Modellierungsprozesses ihr Fachwissen einbringen und mitgestalten können. KI-Modelle, die von Fachleuten interdisziplinär geprüft wurden, führen zu qualitativ besseren Entscheidungen. Und alle Mitarbeitenden bekommen das Gefühl, dass sie das Steuer weiterhin in der Hand behalten. Dann empfinden sie Artificial Intelligence als Hilfswerkzeug, von dem sie bei der Erfüllung ihrer individuellen Aufgaben profitieren. Hier gibt es einen großen Gestaltungsspielraum. Denn eines ist klar: Welche Rolle der Mensch bei der Einführung von Künstliche Intelligenz spielt, entscheidet am Ende der Mensch selbst.“
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