Nachhaltigkeit – jetzt erst recht
Die Corona-Pandemie ist für Wirtschaft und Unternehmen ein Schockmoment. In der Folge könnte das Thema Nachhaltigkeit in den Hintergrund geraten – oder gerade jetzt ein Erfolgsfaktor werden.
09/2020
„Wir durchleben gerade außergewöhnliche Zeiten, und wir stehen vor einer außergewöhnlichen Herausforderung.“ So beginnt John F. Kennedy seine Rede im Mai 1961, in der er ankündigt, dass weniger als zehn Jahre später ein Mensch auf dem Mond landen solle. Das scheinbar Unmögliche heizt einen Wettlauf an, der gerade einmal acht Jahre darauf das Unmögliche Realität werden lässt und beweist, dass die Menschheit zu großen Schritten fähig ist.
Für den schwedischen Ökosystemforscher Prof. Dr. Johan Rockström – Leiter des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, das wissenschafts- und gesellschaftspolitisch wichtige Sachverhalte auf den Gebieten globaler Wandel, Klimafolgen und nachhaltige Entwicklung erforscht – ist die Situation des Jahres 1961 mit der aktuellen Lage vergleichbar. „Nur dass wir heute ankündigen, die Emission von Treibhausgasen binnen zehn Jahren um mindestens 50 Prozent zu reduzieren.“ Zwar habe bislang kein Land diesen nachhaltigkeitspolitischen „Mondflug“ in Angriff genommen und auch kein hinreichend umfassendes politisches Gesamtkonzept vorgelegt, doch spätestens die Corona-Pandemie stelle uns das letzte Ultimatum. „Mit dieser furchtbaren Pandemie verbindet sich ein wichtiges Signal: Wir sind – im Guten wie im Schlechten – nicht so sehr im Status quo gefangen, wie wir es oftmals glauben.“
Krisen als Chance für nachhaltiges Handeln
Der weltweit gefragte Klimaexperte betrachtet den Stand der Dinge kritisch. „Gegenwärtig ist nichts zu sehen von jenen Veränderungen zur Stabilisierung des Klimas und zur Vermeidung weiterer gefährlicher Folgen mit unumkehrbaren Schäden an unserem Lebenserhaltungssystem – unserem Planeten –, deren Notwendigkeit die Forschung aufgezeigt hat.“ Allerdings habe in den letzten fünf Jahren ein tiefgreifender Sinneswandel stattgefunden, in der Wirtschaft werde Nachhaltigkeit verstärkt als strategische Kernaufgabe und als Wettbewerbsfaktor wahrgenommen. „Diese zwei Trends müssen miteinander verknüpft werden. Wir stehen an einer Wegscheide, manche Unternehmen ergreifen mutig die Initiative und nutzen ihre Chance, andere bleiben zögerlich und werden deshalb schon bald das Nachsehen haben.“
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind gemeinsam gefordert, neue Herangehensweisen und Lösungen umzusetzen.
Eine weltweite Krise wie die Corona-Pandemie könnte nun der Startschuss zum Gelingen dieser Transformation sein und somit eine Chance für mehr Nachhaltigkeit bieten. „Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind gemeinsam gefordert, neue Herangehensweisen und Lösungen umzusetzen“, sagt Prof. Dr. Lucia Reisch, Sprecherin des Porsche Nachhaltigkeitsbeirats. „Es ist richtig, gegenwärtig alle notwendigen Ressourcen für die Pandemie-Bekämpfung aufzubringen. Es wäre allerdings fahrlässig, deshalb langfristige und tiefergehende Bedrohungen, wie den globalen Klimawandel, zu verdrängen und die hierfür notwendigen Änderungen zu blockieren.“ Die Professorin für Konsumverhalten und Verbraucherpolitik an der Copenhagen Business School erinnert daran, dass wir alle aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müssen, denn bereits im Jahr 2008 habe die Finanzkrise längst erreichte Meilensteine in der Klimapolitik um Jahre zurückgeworfen. Die Welt könne sich dies kein weiteres Mal leisten.
Gerade weil die Pandemie trotz ihrer natürlichen Ursachen jetzt Auswirkungen auf Gesundheit und Sicherheitsempfinden des Menschen hat, könnte sie einen Wandel beschleunigen.
Trotz der genannten Gefahren nehmen Wissenschaftler wie Rockström eine hoffnungsvolle Haltung ein. „Aktuell bin ich eigentlich recht optimistisch. Die vom Coronavirus ausgelösten Umwälzungen eröffnen nach und nach die Chance, den Wiederaufbau der Gesellschaft so zu betreiben, dass sie am Ende nachhaltiger wirtschaftet und weniger krisenanfällig ist.“ Eines habe Covid-19 gezeigt: Es bestehe ein Zusammenhang zwischen den Eingriffen des Menschen in die natürlichen Lebensräume und globalen Krisen wie der Corona-Pandemie. In dieser Erkenntnis liege auch die positive Schubkraft, so Rockström: „Gerade weil die Pandemie trotz ihrer natürlichen Ursachen jetzt Auswirkungen auf Gesundheit und Sicherheitsempfinden des Menschen hat, könnte sie einen Wandel beschleunigen.“ Das bedeute konkret, dass die Wirtschaft heute mehr denn je aufgerufen sei, sich Lösungen für klimaneutrale Mobilität auszudenken oder Ressourcen im Einklang mit der Natur zu nutzen, damit auch zukünftige Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden.
Nachvollziehbares Handeln statt Lippenbekenntnisse
Doch für viele Unternehmer stehen angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Schäden der Corona-Pandemie im Moment Kostensenkung und Liquidität an erster Stelle. Und denen werden Nachhaltigkeitsbelange oft untergeordnet. Dabei sei es gerade jetzt für Unternehmen entscheidend, Nachhaltigkeit als Erfolgsfaktor für die Zukunft ganz oben auf die Agenda zu setzen, sagt Birgit Engler, Partnerin der Managementberatung Porsche Consulting: „Wirtschaftlich erfolgreich zu sein, bedeutet zukünftig gleichermaßen, seiner gesellschaftlichen und ökologischen Verantwortung gerecht zu werden. Jetzt ist die Zeit, um die Weichen in diese Richtung zu stellen und Nachhaltigkeit im Unternehmen fest zu verankern.“ Dabei komme es auf Weitsicht und wertschaffendes Wachstum statt kurzfristige Ergebnisoptimierung an. Schöne Worte und Lippenbekenntnisse reichen nicht aus. „Nachvollziehbares Handeln und erlebbare Resultate sind notwendig, um glaubwürdig zu sein“, so Engler.
Jetzt geht es an die Substanz.
Das bestätigen auch Experten für nachwachsende Rohstoffe wie Dr. René Backes von BASF, dem nach Umsatz weltweit größten Chemiekonzern. Der Business Development Specialist ist in der schwedischen Dependance des deutschen Konzerns als „Scout“ im Einsatz und sieht das Hauptproblem im Bereich Ökologie: „Es sind die gigantischen Energie- und Stoffmengen, die wir jetzt schon brauchen. Wenn wir das decken wollen, finden wir eigentlich nur fossiles Öl als Rohstoff.“ Und obwohl BASF seit den Neunzigerjahren seinen totalen Treibhausgasausstoß um 50 Prozent reduzieren konnte, bei gleichzeitiger Verdopplung der Produktionsmenge, sei man nun an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr so einfach sei, weiter zu reduzieren: „Weil wir aber noch viel besser werden wollen, geht es jetzt eben auch an die Substanz.“
An dieser Stelle beginnt für René Backes die Arbeit. Der Chemiker ist für BASF in der Region Nordic im Einsatz, um in Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland buchstäblich neue Pfade der Wertschöpfungsketten aufzuspüren: „Ich versuche, Möglichkeiten für den Rohstoffwandel zu identifizieren – etwa wie wir Erdöl durch Recyclingrohstoffe oder nachwachsende Biorohstoffe ersetzen können.“ Mit einer langfristig angelegten Nachhaltigkeitsstrategie sei es gelungen, BASF als Ansprechpartner Nummer eins für nachhaltige Chemieproduktion in Skandinavien zu etablieren. Laut Backes sei die Region anderen Ländern fünf bis zehn Jahre voraus und eine Art „Reagenzglas“ für die Zukunft. So würden dort Lösungen generiert, die auf lange Sicht eine Vorreiterrolle für die Energiegewinnung und damit auch die chemische Industrie weltweit spielen könnten. Doch dafür brauche es Zeit und die Einsicht, Nachhaltigkeit als Grundlage aller unternehmerischen Entscheidungen zu sehen.
Best Practices
Nachhaltigkeit ist kein einfaches Geschäft? Das sehen diese Unternehmen anders – und gehen mit gutem Beispiel voran.
Fischerwerke – preisgekrönt
Fischer erhielt den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2020 in der Kategorie Großunternehmen für seinen ganzheitlichen Ansatz sowie die Integration der Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie.
Von Spielzeug bis Dübel, Fischer-Produkte entstehen auf allen Ebenen nachhaltig: mit Ökostrom, ressourcenschonend und teils mit biobasierten Rohstoffen. Gesellschaftliche Belange werden ebenso berücksichtigt wie die Arbeitsqualität und -sicherheit sowie die Wirtschaftlichkeit. Ein Nachhaltigkeitskompass überwacht die Verbindung von Strategie und Zielen.
Stora Enso setzt auf Nachwuchs
Das finnisch-schwedische Forstunternehmen gilt als Vorreiter der Bioökonomie und ist ein weltweit führender Anbieter von erneuerbaren Lösungen.
Verpackungen, Biomaterialien, Holzbau, Papier: Stora Enso entwickelt Produkte und Technologien, die auf erneuerbaren Materialien basieren. Dieser nachhaltige Ansatz bestimmt die gesamte Wirtschaftskette: von der Wahl der Lieferanten bis zur Beratung der Kunden und Berichterstattung an Investoren.
Frosta – Natur innen und außen
Der deutsche Tiefkühlkosthersteller ist Meister im Verzichten: Das firmeneigene Reinheitsgebot verbietet jegliche Zusatzstoffe.
2003 beginnt Frosta eine konsequente Strategie: Gerichte 100%ig frei von Zusatzstoffen und 100%ig ehrlich – für jede Zutat wird die genaue Herkunft angegeben. Und außen? Seit 2016 verwendet Frosta Plastikverpackungen aus nur einem Stoff, der sich besser recyceln lässt. 2020 führte das Unternehmen den ersten Papierbeutel für die Tiefkühltruhe ein.
Adidas bringt Plastik in Mode
Adidas ist weltbekannt für Sportbekleidung, Sportausrüstung und Schuhe. Bis 2021 soll der erste vollständig recycelbare Schuh entstehen.
Mehr als die Hälfte der Adidas-Produkte enthalten bereits recyceltes Plastik aus aufbereiteten Kunststoffabfällen von Stränden und Küstenregionen. Mit einem neuen Laufschuh aus 100%ig wiederverwendbarem Material soll ein geschlossener Kreislauf ermöglicht werden: ein Schuh, der immer wieder neu entsteht – ohne Abfall.
SKF – alles ist im Fluss
Wiederaufbereitung statt Austausch: Das schwedische Unternehmen SKF (Svenska Kullagerfabriken) ist ein Vorbild in Sachen Kreislaufwirtschaft.
Ob Wälzlager, Schmiersysteme oder Dichtungen – dank fortschrittlicher technischer Zustandsüberwachung wird frühzeitig repariert statt entsorgt. Im Vergleich zur Herstellung neuer Lager wird bei der Wiederaufbereitung 80 Prozent weniger Strom benötigt. Auch Kosten, Zeit und Material können um 20 bis 50 Prozent reduziert werden.
Wir wollen die umweltfreundlichsten Batterien der Welt bauen.
Mitarbeiter als mächtigster Faktor
Das Selbstverständnis von Nachhaltigkeit als Wettbewerbsfaktor kann sich in Unternehmen vor allem dann entwickeln, wenn es in der Unternehmensstrategie verankert ist. Ein Erfolgsbeispiel dafür ist Northvolt. Das schwedische Start-up will Europas größter Fabrikant für Batteriezellen und ‑systeme werden und damit die Trendwende zur E‑Mobilität ermöglichen. „Wir wollen die umweltfreundlichsten Batterien der Welt bauen“, erklärt Emma Nehrenheim, Chief Environmental Officer. Dafür habe das Unternehmen eine Gesamtstrategie entwickelt, in der Nachhaltigkeit als Schlüssel auf vielfältige Weise verankert ist. Die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft, in der zukünftig ein Großteil der Rohstoffe aus recycelten Alt-Batterien stammt, ist dabei nur ein Aspekt. Mit Nachhaltigkeitsteams in allen Unternehmensbereichen will Northvolt den ökologischen Fußabdruck sowohl der Produkte als auch der Fabriken und des Unternehmens als Ganzem klein halten. Dazu beitragen sollen unter anderem die ausschließliche Verwendung von Ökostrom sowie Standards bei der Beschaffung von Rohstoffen. Zudem haben alle 700 Mitarbeiter im Unternehmen den Wert von Nachhaltigkeit erkannt und in ihr tägliches Handeln als selbstverständlich übernommen. Das, so Nehrenheim, sei der mächtigste Faktor: „Wir alle tun alles mit einer langfristigen Perspektive, um die Umweltprobleme von morgen nicht heute zu verursachen.“
Nachhaltigkeit muss Teil der Unternehmensstrategie sein, über Ziele und wirksame Initiativen greifbar gemacht und in Strukturen, Prozessen und in der Unternehmenskultur verankert werden.
Erfolge einzelner Unternehmen seien wichtige Leuchttürme, aber um einen ausschlaggebenden Effekt erzielen zu können, müsse jeder einen Beitrag leisten, mahnt Sustainability-Expertin Birgit Engler. Die Beraterin sieht trotz der unsicheren Zeiten die Notwendigkeit, Nachhaltigkeit konsequent weiter voranzutreiben, in allen Aspekten des wirtschaftlichen Handelns zu verankern und Menschen zum Umdenken zu motivieren. Die aktuelle Zäsur biete gute Möglichkeiten, bestehende Systeme und gewohnte Praktiken zu hinterfragen und neu auszurichten: „Nachhaltigkeit muss Teil der Unternehmensstrategie sein, über Ziele und wirksame Initiativen greifbar gemacht und in Strukturen, Prozessen und in der Unternehmenskultur verankert werden. Gelingt Unternehmen die überzeugende Verbindung aus wirtschaftlicher Höchstleistung, gelebter sozialer Verantwortung und konsequenter Reduzierung der ökologischen Auswirkungen, stellt dies einen echten Mehrwert dar.“ Mitarbeiter- und Kundenbindung, besserer Zugang zu Fremdkapital, Erschließung neuer Geschäftsfelder und die langfristige Steigerung von Unternehmenswert und Krisenresilienz seien Beispiele für Wettbewerbsvorteile durch Nachhaltigkeit.
Rockström kritisiert ferner, dass der Begriff Nachhaltigkeit immer noch zu eng ausgelegt werde. Man dürfe nicht länger die Augen davor verschließen, dass soziale, ökonomische und ökologische Phänomene miteinander verflochten seien. Genau das habe Covid-19 doch gezeigt. Und jetzt sei es an der Zeit, entsprechend zu handeln und einen weiteren großen Schritt für die Menschheit zu gehen.