„Nicht drücken, sondern ziehen!“
Drastische Transformation: Die Belegschaft soll ihre ehemalige Arbeitsstätte fachmännisch zerlegen und das Material als Wertstoff verkaufen oder als Abfall entsorgen. Nikolaus Valerius, Technischer Geschäftsführer der RWE Nuclear GmbH und Vorstand Kernenergie der RWE Power AG, macht daraus ein Erfolgsmodell.
05/2022
Was war das Ziel der Transformation bei RWE Nuclear?
Die Umstellung von einem Energieerzeuger zu einem Rückbauunternehmen. Der Rückbau unserer Anlagen bis zur grünen Wiese ist zugleich die Produktion von Wertstoffen, die in den konventionellen Kreislauf zurückgeführt werden. Das sind mehr als 95 Prozent. Rund zwei Prozent werden als radioaktive Abfälle fachgerecht verpackt und der Bundesrepublik Deutschland zur Zwischen- und späteren Endlagerung übergeben. Das Besondere bei uns ist, dass wir zweigleisig fahren müssen, weil wir parallel zum Rückbau weiter Strom erzeugen, wie in Lingen bis Ende 2022 oder in Gundremmingen, wo das bis Ende 2021 auch so war.
Welche zentralen Veränderungen ergaben sich für die Mitarbeitenden?
Für große Teile der Belegschaft hat sich alles verändert – bis auf den Arbeitsvertrag. Wir haben 2018 systematisch mit dem Wandel begonnen. Zunächst wurden etwa 15 Mitarbeitende eingebunden, von Niedersachsen bis Bayern. Dann haben wir das Programm „Wir in Nuclear“ aufgesetzt, dessen Ziel es ist, alle Mitarbeitenden auf dem Transformationsweg mitzunehmen. Von Beginn an ging es vor allem auch um die Arbeit an der Unternehmenskultur. Die weiteren Schritte waren das Aufsetzen neuer Prozesse, einer neuen Steuerung und einer neuen, auf Rückbau ausgerichteten Struktur. Gleich zu Beginn wurde ein Wertstoff-Team gegründet, das sich um den Vertrieb der beim Rückbau gewonnenen Materialien wie Beton, Kunststoff und Metall kümmert.
Wie reagierten die Mitarbeitenden in Ihrem Unternehmen auf die anstehenden Veränderungen? Waren die Reaktionen in den Hierarchiestufen unterschiedlich? Fühlte sich jeder mitgenommen?
Während das Top-Management sehr schnell mitzog, bestand im mittleren Management teilweise mehr Aufklärungsbedarf zu unseren Ideen. Es gab einige Kolleginnen und Kollegen, die Veränderungen nicht freudestrahlend gegenüberstanden. Sie befürchteten, durch den Wandel persönlich etwas zu verlieren. Dagegen stellten sich viele Mitarbeitenden wie Meister*innen und Handwerker*innen relativ schnell auf den Wandel zu einem Rückbauunternehmen ein. Es zeigte sich, dass es hilfreich ist, wenn man konzeptionell vorgeht: Führungskräfte müssen genau erklären, welche schlüssige innere Logik in der Veränderung liegt. Je mehr Belegschaftsmitglieder das verstehen und nachvollziehen können, desto schneller gelingt die Transformation. Bei uns kam nach dem Verständnis die Begeisterung für die Sache. Und der Wille, mit dabei zu sein.
RWE Nuclear: Rückbau als Geschäftsmodell
Wie haben Sie Ihre persönliche Rolle in der Transformation wahrgenommen und wie haben Sie sich an der Kommunikation beteiligt?
Überzeugung und Begeisterung für eine Aufgabe fangen bei einem selbst an. Und dazu gehört erst einmal, die Situation zu verstehen, das Ziel zu formulieren und den Weg zu entwerfen – aus Sicht des Unternehmens als auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das macht man auch nicht allein: Die direkten Führungskräfte auf diesem Weg mitzunehmen, ist genauso entscheidend, wie über einen Programm- oder Projektansatz Mitarbeitende aus allen Hierarchien und Blickwinkeln einzubeziehen. Eine Koalition der konstruktiv Kritischen und Engagierten! Und so haben wir die Arbeit dann organisiert und Foren des Diskutierens und Mitmachens geschaffen. Für mich war es bei Übernahme der Aufgabe 2017 von Vorteil, dass ich zu Beginn meines Berufslebens selbst in der Kernenergiebranche angefangen hatte und die ersten drei Berufsjahre kerntechnisches Handwerk gelernt hatte. Durch die Branchenkenntnis fiel es mir auch selbst leichter, zu analysieren, zu überzeugen und glaubwürdig zu vermitteln. Ich habe den Menschen zugehört, erklärt und versucht, zu begeistern. Und solange man einen neuen Prozess oder eine neue Struktur noch sehr kompliziert erklären muss, hat man es selbst nicht ausreichend durchdrungen. Andersherum: Wenn es klar ist, wird es einfach. Und dann verstehen es auch alle! Mein Ziel und meine Rolle ist, dass Führungskräfte die Mitarbeitenden überzeugen und begeistern, sie nicht in eine Richtung drücken, sondern eher ziehen und dorthin mitnehmen, wo man selbst schon ist. Führen heißt vorausgehen.
Was ist noch wichtig für eine erfolgreiche Transformation? Haben Sie existierende Richtlinien, Kennzahlen und Anreizsysteme verändert?
Wir agieren mit klaren Worten und Zielen, kurz‑, mittel- und langfristig. Im Jahr 2021 wollten wir rund 3.600 Tonnen Material abbauen und verwerten, geschafft haben wir stolze 4.500 Tonnen. 2022 sollen es 6.000 Tonnen sein. Wo wir aktuell stehen, zeigen wir den Mitarbeitenden wöchentlich. Und unsere Incentivierung guter Leistungen schließt niemanden aus. Vor allem wird nach zwei Jahren deutlich, dass es ernst ist, und keine „neue Sau durchs Dorf getrieben wurde“. Auch deshalb zieht die Belegschaft mit. Aber wahr ist auch: Natürlich läuft nicht alles rund, nicht immer fühlen sich alle mitgenommen, nicht immer wirkt alles klar, nicht immer wird alles erreicht. Neudeutsch: „Gaps to target“ … Aber wir erkennen solche Diskrepanzen zunehmend und arbeiten daran.
Mussten Sie die Art und Weise der traditionellen Zusammenarbeit im Unternehmen im Zuge des Wandels verändern?
Ja, komplett. Ein Beispiel: Früher gab es die Zentrale – die Hauptverwaltung. Dort wurde viel verwaltet, geregelt und vorgegeben. Dieses Hauptquartier war weit weg für die Belegschaft in den Kraftwerken. Jetzt sind wir besser organisiert. Unsere einzelnen Anlagen sind Mittelpunkt unseres operativen Handelns und die Organisation in Essen ist darauf ausgerichtet, die Standorte bei der gemeinsamen Zielerreichung mit Expertise zu unterstützen. Standortübergreifende Expertenkreise leiten und entscheiden Themen, die wir dann überall umsetzen. Jeder hat auch eine Portfolioverantwortung. Das ist sehr wertvoll, denn in entscheidenden Fragen brauchen wir die volle Kraft und das Know-how von all unseren Leuten.
Eine Transformation verlangt von den Mitarbeitenden neues Know-how. Wie haben Sie diese Fertigkeiten aufgebaut?
Wichtig ist der bereits erwähnte standortübergreifende Austausch und der Know-how-Transfer. So haben sich Kolleginnen und Kollegen vom Standort Gundremmingen den Rückbau in den Kraftwerken Mülheim-Kärlich, Biblis und Lingen angeschaut. Statt wie früher nur auf den eigenen Standort zu blicken, haben wir durch den „Wir-Prozess“ typisches Silodenken aufgebrochen. Alle Mitarbeitenden verfolgen nun ein und dasselbe Ziel. Gute Instrumente für Kompetenzvermittlung sind die von uns eingerichtete eigene Rückbauakademie und internetbasierte Trainings zu Einzelthemen. Wir holen uns aber auch jede Menge nützliches Wissen vom Markt, zum Beispiel von Lieferanten. Bei der Weiterbildung und Qualifizierung für die neuen Aufgaben hilft außerdem der von uns eigens entwickelte Rückbausimulator. Alle Mitarbeitenden setzen sich im Rahmen einer Simulation zwei Tage mit unserem Integrierten Rückbauprozess auseinander. Damit fördern wir auch die Generierung neuer Ideen und Innovationen.
Was war besonders ausschlaggebend für den Erfolg der Transformation?
Unsere Transformation ist nicht abgeschlossen, der eigentliche Rückbau beginnt erst. Dafür haben wir mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine robuste Basis gelegt. Und die Transformation hört nicht bei der eigenen Mannschaft auf: Lieferanten, Gutachter, Behörden – alle sind in diesen Prozess integriert und letztlich treiben wir es voran und nehmen mit. Gut gelaufen ist der Wandel bisher, weil wir eine nachvollziehbare Idee klar kommuniziert und strategische Führung zu einem Kernthema der Unternehmenskultur gemacht haben. Die Führungskräfte müssen die Arbeit so organisieren, dass die Mitarbeitenden inhaltlich das machen können, worin sie gut sind. Dann werden auch die Ergebnisse gut.