Life Sciences

Mehr Präzision
für Patienten

Das Gesundheitswesen steht vor einem Paradigmenwechsel. Unter dem Stichwort „personalisierte Medizin“ wollen Expertinnen und Experten aus Medizin, Genforschung, Pharmazie und IT Therapien und Medikamente gezielt auf einzelne Individuen ausrichten. Insider assoziieren mit den neuen Technologien gewaltige Umbrüche, die auf alle Stakeholder im Gesundheitswesen zukommen. Das „Porsche Consulting Magazin“ hat renommierte Expertinnen und Experten um ihre Einschätzung zu diesem Thema gebeten.

10/2022

Acht Expertinnen und Experten aus Medizin, IT, Genforschung und Pharmazie geben Einblicke in die ärztliche Behandlung der Zukunft.Porsche Consulting/Lea Einbrodt
Chancen für Patienten und Unternehmen
Kranke Menschen sehnen sich nach einer Behandlung, die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Doch aufgrund der bisher verfügbaren Technologien bestimmen derzeit noch bestenfalls teilindividualisierte Verfahren die Therapien im Gesundheitswesen. Dabei wird immer deutlicher, dass ein Anteil der Medikamente nicht bei allen Menschen anschlägt. Und während manche Patientinnen und Patienten einen Wirkstoff gut vertragen, löst er bei anderen massive Nebenwirkungen aus.

Dr. Roman Hipp, Senior Partner bei Porsche Consulting und hier verantwortlich für den Bereich Life Science Practice, sieht deshalb große Chancen in der zunehmenden Personalisierung von Therapien. „Der Umfang verfügbarer Gesundheitsdaten nimmt ständig zu. Sie lassen sich mit künstlicher Intelligenz auswerten. Hinzu kommen die Fortschritte in der Genforschung. Beides zusammen schafft enorme Potenziale, damit eine noch individualisiertere Behandlung schon bald Realität werden kann.“

Die Zukunft der personalisierten Medizin hat längst begonnen

Dr. Roman HippDr. Roman Hipp
Senior Partner bei Porsche Consulting

Der Schlüs­sel zu einem noch grö­ße­ren Behand­lungs­er­folg ist die „per­so­na­li­sier­te Medi­zin“: Den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten soll jeweils die rich­ti­ge Medi­zin in der rich­ti­gen Dosie­rung zum rich­ti­gen Zeit­punkt ver­ab­reicht wer­den. Das sei keine ferne Uto­pie, sagt Hipp, das Gegen­teil sei der Fall. „Die Zukunft die­ser neuen, prä­zi­sen Medi­zin hat schon längst begonnen.“

Patientinnen und Patienten profitieren schon heute

Ein Bei­spiel ist die Behand­lung von an Brust­krebs erkrank­ten Pati­en­tin­nen: Rund 20 Pro­zent der Pati­en­tin­nen mit Mam­ma­kar­zi­nom sind Trä­ger eines stark über­ex­pri­mier­ten HER2-Rezep­tors. Wird die­ser im Rah­men einer gene­ti­schen Ana­ly­se fest­ge­stellt, steht den Betrof­fe­nen eine per­so­na­li­sier­te The­ra­pie mit dem Anti­kör­per Tras­tu­zu­mab zur Ver­fü­gung. Der Wirk­stoff bin­det an den HER2-Rezep­tor und hemmt so das Wachs­tum der Krebs­zel­len. Für Pati­en­tin­nen, die kei­nen über­ex­pri­mier­ten HER2-Rezep­tor auf­wei­sen, ist die The­ra­pie hin­ge­gen wirkungslos.

Das Bei­spiel steht für immer mehr Fälle, in denen die Prin­zi­pi­en einer noch indi­vi­dua­li­sier­te­ren bezie­hungs­wei­se noch stär­ker auf bestimm­te Per­so­nen­grup­pen aus­ge­rich­te­ten The­ra­pie­form bereits umge­setzt wer­den. „Wir schät­zen, dass Metho­den der per­so­na­li­sier­ten Medi­zin schon ab 2030 in der Brei­te ange­wen­det wer­den“, sagt Hipp, der bei Por­sche Con­sul­ting den Bereich Life Sci­en­ces ver­ant­wor­tet. „Bis dahin wird sich das Gesund­heits­we­sen als Gan­zes wei­ter trans­for­mie­ren – es bahnt sich ein ech­ter Umbruch an.“

Digitalisierung treibt die Entwicklung

Ein wesent­li­cher Trei­ber der Ent­wick­lung ist die zuneh­men­de Digi­ta­li­sie­rung. So wird es laut Hipp durch die Ana­ly­se gro­ßer Infor­ma­ti­ons- und Daten­men­gen zukünf­tig mög­lich sein, Ursa­chen von Krank­hei­ten zu iden­ti­fi­zie­ren, die bis dato unbe­kannt sind. Schon jetzt gene­rie­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten durch den Ein­satz von Smart­wat­ches, Smart­phones oder ande­ren Weara­bles von Tag zu Tag neue indi­vi­du­el­le Infor­ma­tio­nen. „Real World Data ermög­li­chen es Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern, noch effek­ti­ve­re The­ra­pien zu ent­wi­ckeln, und Ärz­tin­nen und Ärz­ten, ihre Dia­gno­sen immer wei­ter zu präzisieren.“

Doch das ist erst der Anfang. Denn wäh­rend Deutsch­land noch über die digi­ta­le Gesund­heits­ak­te dis­ku­tiert, spre­chen viele Exper­tin­nen und Exper­ten bereits von einem digi­ta­len Zwil­ling. Hier­bei han­delt es sich um ein digi­ta­les Abbild des Men­schen mit Infor­ma­tio­nen über bio­lo­gi­sche Funk­tio­nen, Expres­si­ons­mus­ter von Genen und den indi­vi­du­el­len Bedarf für Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men einer und eines jeden Ein­zel­nen. Hipp: „In der Zukunft wer­den poten­zi­el­le The­ra­pien im Hin­blick auf ihre Wirk­sam­keit, aber auch mög­li­che Neben­wir­kun­gen zunächst am digi­ta­len Ich getes­tet werden.“

Neue Chancen für Unternehmen

Die per­so­na­li­sier­te Medi­zin for­mu­liert aber nicht nur ein Ver­spre­chen für Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten – sie eröff­net auch neue Chan­cen für Unter­neh­men. „Die Bedeu­tung per­so­na­li­sier­ter Medi­zin wird in den kom­men­den Jah­ren für alle Akteu­re im Gesund­heits­we­sen noch wei­ter zuneh­men und letzt­lich dazu füh­ren, dass das Thema Gesund­heit ganz neu gedacht wird“, erklärt Hipp. „Bis es so weit ist, müs­sen sich Unter­neh­men, poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger und die Gesell­schaft als Gan­zes den Her­aus­for­de­run­gen stel­len, die das Neue wie immer mit sich bringt.“

Mit dem Drei-Phasen-Modell zum Erfolg

Als Bera­ter und Wirt­schafts­exper­te kon­zen­triert sich Roman Hipp in ers­ter Linie auf die Unter­neh­men, die in der Umbruchs­si­tua­ti­on neue Chan­cen rea­li­sie­ren wol­len. Diese müss­ten im Wesent­li­chen drei Pha­sen durch­den­ken, bevor sie in per­so­na­li­sier­te Medi­zin als Geschäfts­feld inves­tie­ren (siehe Info­kas­ten): Am Anfang steht die stra­te­gi­sche Ent­schei­dung, inwie­weit das Unter­neh­men per­so­na­li­sier­te The­ra­pien, wie bei­spiels­wei­se Zell- und Gen­the­ra­pien, in das Port­fo­lio auf­neh­men soll. „Die zen­tra­le Frage lau­tet hier, ob das eige­ne Unter­neh­men die nöti­gen Kern­kom­pe­ten­zen bereits besitzt bezie­hungs­wei­se Part­ner­un­ter­neh­men fin­det, um sich den neuen Markt zu erschlie­ßen – denn nur dann machen Inves­ti­tio­nen über­haupt Sinn“, erklärt der
Por­sche Con­sul­ting-Exper­te. Könne man an diese Frage einen Haken machen, müs­sen im zwei­ten Schritt „Pro­zes­se, Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur und die Fähig­kei­ten der Mit­ar­bei­ten­den auf das zu errei­chen­de Ziel hin aus­ge­rich­tet wer­den. Für die erfolg­rei­che Umset­zung sind dann auch klein­tei­li­ge­re Her­stel­lungs­pro­zes­se und eine kom­ple­xe­re Sup­p­ly Chain effi­zi­ent zu managen.“


Inga Bergen: „Wir brauchen einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff“

Katja Hentschel

Inga Ber­gen ist Unter­neh­me­rin und Exper­tin für Inno­va­tio­nen und Digi­ta­li­sie­rung im Gesund­heits­we­sen. Als Geschäfts­füh­re­rin hat sie den Digi­tal-Health-Soft­ware-Dienst­leis­ter well­doo und das Start-up Magno­sco auf­ge­baut, das die Haut­krebs­dia­gnos­tik mit­tels Laser-Tech­no­lo­gie und künst­li­cher Intel­li­genz vor­an­brin­gen will. In ihrem Pod­cast „Visio­nä­re der Gesund­heit“ dis­ku­tiert sie zukunfts­wei­sen­de The­men mit ande­ren Exper­tin­nen und Exper­ten. Im Herbst 2022 erscheint ihr neues Buch „Visio­nä­re der Gesundheit“. 

Produktion im Wandel

Laut Inga Bergen funktioniert das Gesundheitswesen heute nach dem Motto „One Size Fits All“. Bestenfalls werde in der therapeutischen Anwendung das Geschlecht und/oder das Alter einbezogen, sagt die Unternehmerin und Expertin für Innovationen und Digitalisierung im Gesundheitswesen. „Kaum Beachtung erfahren individuelle Bedürfnisse, Lebensumstände, individuelle Biologie und Genetik.“ Genau hier setzt aber die personalisierte Medizin an. „Sie berücksichtigt alle persönlichen Dispositionen von der sozialen Ebene bis hin zum genetischen Set-up, um Menschen durch ihre Gesundheit zu begleiten, ihnen im Krankheitsfall beizustehen und um ihre Therapie fortlaufend anzupassen.“

Behandlungen überprüfen, bevor sie zur Anwendung kommen

Um die­sem Ideal gerecht zu wer­den, muss Gesund­heit aber ganz neu gedacht wer­den. Ber­gen spricht in die­sem Zusam­men­hang von einem „holis­ti­schen Gesund­heits­be­griff“, der ent­wi­ckelt wer­den müsse. Der Ansatz klingt viel­ver­spre­chend, stellt er doch den Pati­en­ten oder die Pati­en­tin mit all sei­nen bzw. ihren Daten ins Zen­trum. Die Hoff­nung: Die indi­vi­du­el­le Wir­kung einer medi­zi­ni­schen Inter­ven­ti­on soll genau erfasst wer­den – am bes­ten schon im Vor­feld der The­ra­pie. „Das könn­te mit­hil­fe eines digi­ta­len Abbilds des Men­schen mög­lich wer­den, das seine Bio­lo­gie, seine Gene und wei­te­re indi­vi­du­el­le Merk­ma­le wider­spie­gelt“, erklärt Ber­gen. Damit unter­stützt sie das Kon­zept eines „digi­ta­len Zwil­lings“, das auch Life-Sciences-Experte
Roman Hipp als visio­nä­res Ziel defi­niert. Laut Ber­gen wäre ein sol­cher digi­ta­ler Zwil­ling ein gro­ßer Gewinn für Medi­zi­ner und Pati­en­ten: „Die Effek­te einer The­ra­pie könn­ten über­prüft wer­den, bevor sie tat­säch­lich zur Anwen­dung kommt. Im Anschluss kann zudem erfasst wer­den, wie die The­ra­pie gewirkt hat.“

Der Ansatz wirkt revo­lu­tio­när. Und laut Ber­gen trügt der Schein nicht: „Die Aus­wir­kun­gen per­so­na­li­sier­ter The­ra­pien auf den gesam­ten medi­zi­ni­schen Sek­tor wer­den fun­da­men­tal sein.“ So sei denk­bar, dass sich die Gesund­heits­in­dus­trie zu einer „hyper­lo­ka­li­sier­ten Öko­no­mie“ wei­ter­ent­wi­cke­le, um Pati­en­ten und Pati­en­tin­nen mit der jeweils indi­vi­du­ell auf sie abge­stimm­ten Medi­zin zu ver­sor­gen. Die Pro­duk­ti­on von Medi­ka­men­ten würde Ber­gen zufol­ge dann direkt am Point of Care statt­fin­den – so, wie das heute teil­wei­se schon im Rah­men der Car-T-Zell­the­ra­pie oder in ganz ande­rer Form bei Anbie­tern wie Ama­zon Pill­pack geschieht.

Wandel benötigt andere Anreize

Ein Selbst­läu­fer sind diese Ent­wick­lun­gen aber nicht. Denn um Visio­nen wie diese mög­lich zu machen, müs­sen im Gesund­heits­we­sen ande­re Anrei­ze gesetzt wer­den, sagt Ber­gen. Zudem müsse ver­stärkt in Inno­va­tio­nen inves­tiert wer­den, die per­so­na­li­sier­te, indi­vi­dua­li­sier­te Medi­zin erst mög­lich mach­ten. „Mit Geld allein ist es nicht getan, denn diese Inno­va­tio­nen beru­hen im Wesent­li­chen auf Daten“, gibt Ber­gen zu beden­ken. „Nur wenn wir Daten digi­ta­li­sie­ren, stan­dar­di­sie­ren und zugäng­lich machen, ver­ste­hen wir: Was wirkt bei wem?“

Offene Diskussion zum Thema Daten

Als Hin­der­nis auf dem Weg zu einer prä­zi­se­ren Medi­zin sieht Ber­gen des­halb die öffent­li­che Dis­kus­si­on rund um eben­die­ses Thema: „Oft ist der media­le Dis­kurs von Skep­sis geprägt, sobald über Gesund­heits­da­ten gespro­chen wird. Daten zu tei­len, soll aber keine Angst machen, son­dern der Nut­zen für Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten soll­te im Vor­der­grund ste­hen.“ Die Exper­tin, die auch einen eige­nen Pod­cast zu Gesund­heits­the­men betreibt, wirbt des­halb für eine offe­ne Dis­kus­si­on und eine Neu­be­wer­tung des The­mas. „Wenn Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten klar ist, dass sie einen Gegen­wert für ihre Daten erhal­ten, tei­len sie Daten auch – wir brau­chen des­halb ein posi­ti­ves, zukunfts­ge­rich­te­tes Nar­ra­tiv in unse­rer Gesell­schaft, damit Inno­va­ti­on sich in Deutsch­land ent­fal­ten kann.“


Dr. Bernd Boidol: „Was vor 20 Jahren ein Todesurteil war, ist jetzt eine chronische Erkrankung“

Proxygen

Dr. Bernd Boidol ist seit Sep­tem­ber 2020 CEO beim Phar­ma­zie-Start-up Pro­xy­gen in Wien. Zuvor war er Bera­ter bei Por­sche Con­sul­ting in den Berei­chen Medi­zin­tech­nik und Phar­ma. Pro­xy­gen kre­iert eine Platt­form zur sys­te­ma­ti­schen Erfor­schung soge­nann­ter Mole­cu­lar Glue Degra­d­ers. Diese könn­ten die Ent­wick­lung von Medi­ka­men­ten revo­lu­tio­nie­ren, indem sie krank­heits­er­re­gen­de Eiwei­ße gezielt ansteu­ern, „ver­kle­ben“ und damit unschäd­lich machen. Im Juni 2022 hat das Start-up eine 500-Mil­lio­nen-Euro-Part­ner­schaft mit dem deut­schen Phar­ma­rie­sen Merck unter­zeich­net, um die Glue Degra­d­ers wei­ter zu erforschen.

Was Daten leisten

„Der Begriff ,personalisierte Medizin ist schwer zu definieren“, sagt Dr. Bernd Boidol, CEO beim Pharmazie-Start-up Proxygen in Wien. „Wenn wir darin eine medizinische Behandlung sehen wollen, die auf den individuellen Menschen zugeschnitten ist, stellt sich die Frage, ob es sich wirklich um einen gänzlich neuen Ansatz handelt.“ Aus seiner Sicht kommt bereits die Auswertung einer Zell- bzw. Gewebeprobe in der Pathologie einem personalisierten Verfahren gleich. Ähnlich verhalte es sich bei morphologischen Auswertungen: „Wenn ich mir Zellen von Patienten unter dem Mikroskop anschaue und daraufhin ein ‚individuelles‘ Medikament verabreiche, ist das nicht weniger personalisiert – gemacht wird das seit Hunderten von Jahren.“

Präzise Therapien entwickeln und erfolgreich anwenden

Boidol spricht aus den genann­ten Grün­den lie­ber von „Prä­zi­si­ons­me­di­zin“. Für ihn wäre das der Ver­such, „in einem ers­ten Schritt mit­hil­fe der neu­es­ten Tech­no­lo­gien ein extrem prä­zi­ses Ver­ständ­nis der jewei­li­gen Krank­heit zu bekom­men und in einem zwei­ten Schritt eine sehr prä­zi­se Behand­lung für genau diese Krank­heit zu fin­den und anzu­bie­ten.“ Dass Boidol gera­de das Krank­heits­ver­ständ­nis so sehr her­vor­hebt, hat sei­nen guten Grund: „Die mole­ku­la­ren Ursa­chen einer Erkran­kung wer­den oft unter­schätzt – doch nur dann, wenn wir eine Krank­heit wirk­lich ver­stan­den haben, kön­nen wir eine prä­zi­se The­ra­pie ent­wi­ckeln und erfolg­reich anwenden.“

Auch wenn Boidol die Defi­ni­ti­on des The­mas etwas enger fasst, ist er sich doch mit vie­len ande­ren Exper­ten in einer Sache einig: Es ist vor allem die Onko­lo­gie, bei der die neuen Metho­den bereits für enor­me Fort­schrit­te gesorgt haben. Bei­spiel Chro­ni­sche Mye­loi­sche Leuk­ämie: Bei Men­schen, die unter die­ser Form der Leuk­ämie lei­den, liegt in vie­len Fäl­len ursäch­lich eine spe­zi­fi­sche Gen­mu­ta­ti­on vor. Wird die Muta­ti­on kli­nisch getes­tet, kann ein neu­ar­ti­ges Medi­ka­ment ver­ab­reicht wer­den, das diese Gen­va­ri­an­te selek­tiv bin­det und so ihre Funk­ti­on unter­drückt – und das mit nur mini­ma­len Neben­wir­kun­gen. Boidol: „Was vor 20 Jah­ren noch ein Todes­ur­teil war, ist jetzt eine auf zehn, fünf­zehn Jahre behan­del­ba­re chro­ni­sche Erkrankung.“

Fortschritt nur mit mehr Daten möglich

Und noch in einer ande­ren Sache ist sich der Pro­xy­gen-Chef mit den meis­ten Exper­ten einig: Schnel­le Fort­schrit­te in der Prä­zi­si­ons­me­di­zin sind für ihn nur zu haben, wenn mehr Daten von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zugäng­lich gemacht wer­den. „Die Daten sind da – das Pro­blem ist der stren­ge und somit limi­tie­ren­de Daten­schutz.“ In der Tat stellt sich die Frage, warum ein Kran­ken­haus seine Daten nicht zumin­dest anony­mi­siert ver­kau­fen darf. Immer­hin wür­den die Daten genutzt, um Medi­ka­men­te zu ent­wi­ckeln, die Schwer­kran­ken hel­fen könn­ten und somit Lei­den lin­dern. „Ich finde, das soll­te mög­lich sein“, sagt Boidol. Es müsse dabei nur nach­voll­zieh­bar sein, „dass der Nut­zen für Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten im Fokus steht.“

Preisfindung den Unternehmen überlassen

Aku­ten Bedarf an dar­über hin­aus­ge­hen­den Maß­nah­men, um spe­zi­ell den neuen Metho­den zum Durch­bruch zu ver­hel­fen, sieht Boidol aktu­ell nicht, denn „vie­les, was die phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie als Gan­zes vor­an­brin­gen würde, wäre auch beim Blick auf die Prä­zi­si­ons­me­di­zin sinn­voll.“ Aus sei­ner Sicht würde es den medi­zi­ni­schen Fort­schritt schon för­dern, wenn man die Preis­fin­dung von bestimm­ten Medi­ka­men­ten, bei­spiels­wei­se Anti­bio­ti­ka, den Unter­neh­men über­las­sen und auf etwa­ige Preis­de­cke­lun­gen ver­zich­ten würde. „Wie heil­sam und wett­be­werbs­för­dernd das sein kann, haben wir bei der schnel­len und erfolg­rei­chen Ent­wick­lung der Coro­na-Impf­stof­fe beob­ach­ten können.“


Dr. Dorothee Brakmann: „Wir werden Krankheiten aufhalten, bevor sie ausbrechen“

Alexandra Malinka

Dr. Doro­thee Brak­mann ist Mit­glied der Geschäfts­lei­tung bei Jans­sen Deutsch­land und ver­ant­wor­tet dort als Direk­to­rin den Geschäfts­be­reich Onko­lo­gie / Häma­to­lo­gie. Ihre Kar­rie­re bei Jans­sen Deutsch­land begann sie bereits 2008 als Lei­te­rin Gesund­heits­po­li­tik, zuvor war Dr. Brak­mann unter ande­rem als Kran­ken­haus­apo­the­ke­rin in Groß­bri­tan­ni­en sowie für Kos­ten­trä­ger im Gesund­heits­we­sen tätig und ent­wi­ckel­te phar­ma­öko­no­mi­sche Soft­ware­lö­sun­gen für Apo­the­ken. Das Phar­ma­un­ter­neh­men Jans­sen gehört zum welt­weit agie­ren­den Gesundheitskonzern
John­son & Johnson.

Anreize für Innovationen

Wenn es um ihre Zukunftsvision für das Gesundheitswesen geht, muss selbst Dr. Dorothee Brakmann einräumen, dass es sich manchmal ein bisschen anhört wie Science-Fiction. Dabei ist Brakmann keine Träumerin, sie ist Mitglied der Geschäftsführung beim Neusser Pharmazieunternehmen Janssen und hat im Laufe ihrer Karriere so ziemlich jede Station in der Branche kennen gelernt: von der Krankenhausapotheke über die Kostenträger im Gesundheitswesen bis zum forschenden Pharmaunternehmen. Die Pharmazeutin weiß also, wovon sie spricht, wenn sie sagt: „In der Zukunft werden wir Krankheiten aufhalten, bevor sie überhaupt ausbrechen – wir sind gar nicht mehr so weit davon entfernt.“

Mög­lich machen sol­len dies viel­ver­spre­chen­de Inno­va­tio­nen aus dem Bereich der per­so­na­li­sier­ten Medi­zin. „Wir müs­sen weg vom One-Pill-Fits-All-Ansatz und hin zu mög­lichst auf indi­vi­du­el­le Dia­gno­se und Bedürf­nis­se abge­stimm­ten The­ra­pien“, for­dert Brak­mann. „Wir müs­sen den Repa­ra­tur­be­trieb für Kran­ke – viel mehr ein Kran­ken- als ein Gesund­heits­sys­tem – hin­ter uns las­sen und ein Gesund­heits­sys­tem eta­blie­ren, das die­sen Namen verdient.“

Die individuell richtige Therapie zur individuell richtigen Zeit

Das Gute: Der Anfang ist getan, der Ein­stieg in die neue Welt der Prä­zi­si­ons­me­di­zin bereits geglückt. Ins­ge­samt 97 in Deutsch­land zuge­las­se­ne Medi­ka­men­te erfül­len laut aktu­el­len Daten des Ver­bands der for­schen­den Phar­ma­un­ter­neh­men den Anspruch einer ziel­ge­rich­te­ten The­ra­pie, der Groß­teil davon ist in der Onko­lo­gie im Ein­satz, zitiert Doro­thee Brak­mann. Ihnen allen gemein­sam ist, dass sie die indi­vi­du­el­le gene­ti­sche Aus­stat­tung der betrof­fe­nen Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten berück­sich­ti­gen. Das heißt: Bevor eines die­ser Medi­ka­men­te ver­ab­reicht wird, über­prü­fen Medi­zi­ner und Medi­zi­ne­rin­nen das Erb­gut des/der Erkrank­ten. Diese bio­che­mi­schen und gene­ti­schen Vor­un­ter­su­chun­gen zei­gen hier­bei, wel­ches Prä­pa­rat eine gute Wir­kung und wel­ches ver­mut­lich keine posi­ti­ven Aus­wir­kun­gen haben wird. „Auf diese Weise bekommt der rich­ti­ge Pati­ent zur rich­ti­gen Zeit den rich­ti­gen Wirk­stoff“, sagt
Brakmann.

Die Onkologie macht nur den Anfang

Dass die­ser gene­ti­sche Ansatz vor allem in der Onko­lo­gie zum Ein­satz kommt, hat sei­nen guten Grund: „Eine Krebs­er­kran­kung ist eine Erkran­kung der Gene“, erklärt Doro­thee Brak­mann. Ent­spre­chend loh­nend ist es, sich hier nach gene­ti­schen Merk­ma­len auf die Suche zu machen und diese im Vor­feld einer The­ra­pie zu unter­su­chen. Auch Jans­sen forscht in die­sem Bereich und ent­wi­ckelt unter ande­rem Wirk­stof­fe gegen Lun­gen­krebs, Pro­sta­ta­krebs, Bla­sen­krebs und ver­schie­de­ne Blut­krebs­ar­ten. Laut Brak­mann bleibt die Prä­zi­si­ons­me­di­zin aber nicht auf die Krebs­the­ra­pie beschränkt: „Die Onko­lo­gie hat den Anfang gemacht, die ande­ren The­ra­pie­ge­bie­te zie­hen bereits nach.“

So haben fast alle For­schungs­ge­bie­te, in denen Jans­sen aktiv ist, einen per­so­na­li­sier­ten Ansatz – „mit allen Pro­ble­men, die das mit sich bringt“, sagt Brak­mann. Eines davon sind die deut­lich klei­ne­ren, selek­tiv auf die gene­ti­schen Merk­ma­le hin aus­ge­wähl­ten Pati­en­ten­ko­hor­ten, die für kli­ni­sche Stu­di­en gefun­den wer­den müs­sen, wenn immer spe­zi­fi­sche­re Sub­grup­pen einer Erkran­kung erforscht wer­den. Ein ande­res sind die hohen Kos­ten, die für ein Medi­ka­ment auf­ge­ru­fen wer­den, mit dem nur weni­ge, aber dafür ziel­ge­rich­tet, the­ra­piert wer­den. Brak­mann: „Die Res­sour­cen des Gesund­heits­sys­tems sind end­lich – das ist auch uns durch­aus bewusst.“

Das magische Dreieck des Gesundheitssystems

Die Phar­ma­ex­per­tin zieht des­halb eine „feine Linie“ zwi­schen den drei Stell­schrau­ben im Gesund­heits­sys­tem: dem Zugang der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu Medi­ka­men­ten, der Bezahl­bar­keit des Sys­tems und den Inno­va­ti­ons­an­rei­zen für die for­schen­den Unter­neh­men. „Wir brau­chen hier einen guten Dia­log zwi­schen allen Betei­lig­ten“, for­dert sie. Und weiß bes­ser als jede ande­re, dass das leicht gesagt ist, denn: „Wenn Sie an einer Stell­schrau­be dre­hen, bewe­gen Sie dabei immer auch die bei­den ande­ren Stell­schrau­ben in die­sem magi­schen Dreieck.“

Wäh­rend Brak­mann den Zulas­sungs­be­hör­den einen guten Job attes­tiert, hakt es aus ihrer Sicht bei den Erstat­tungs­sys­te­men – auch in Deutsch­land. „Hier sind immer noch viel zu viele Old-School-Model­le ver­brei­tet“, sagt sie und meint die gro­ßen, ran­do­mi­sier­ten kli­ni­schen Stu­di­en, wel­che die Kos­ten­trä­ger ein­for­dern. „Natür­lich ist das der Gold­stan­dard“, räumt Brak­mann ein. „Aber wenn Sie Medi­ka­men­te für sehr klei­ne Pati­en­ten­grup­pen ent­wi­ckeln, ist es sehr schwie­rig, sol­che umfas­sen­den Stu­di­en vor­zu­le­gen.“ Für einen ech­ten Durch­bruch bei der Prä­zi­si­ons­me­di­zin brau­che es des­halb wei­te­re Anpas­sun­gen im Sys­tem – neben einer Frei­ga­be von anony­mi­sier­ten Gesund­heits­da­ten, die Brak­mann wie viele ande­re Exper­tin­nen und Exper­ten einfordert.

Mit Biomarkern Krankheiten verhindern

Ent­schei­de man sich dafür, im magi­schen Drei­eck des Gesund­heits­we­sens an der Schrau­be für die Inno­va­ti­ons­an­rei­ze zu dre­hen, steht auch der Zukunft nichts im Weg. Der Zukunft, in der wir Krank­hei­ten auf­hal­ten, bevor sie aus­bre­chen. „Dise­a­se Inter­cep­ti­on“ lau­tet bei Jans­sen der Fach­be­griff für die­sen Ansatz. Er funk­tio­niert im Grun­de ganz ähn­lich wie der der per­so­na­li­sier­ten Krebs­the­ra­pie: über die Iden­ti­fi­ka­ti­on von Bio­mar­kern, bei­spiels­wei­se bestimm­ten Gen­mu­ta­tio­nen, die ein Krank­heits­bild wahr­schein­li­cher machen. „Haben Sie einen sol­chen Prä­dik­tor bei einer Pati­en­tin, einem Pati­en­ten ermit­telt, lässt sich ein beson­ders hohes Risi­ko für eine Erkran­kung dia­gnos­ti­zie­ren – schon vor dem Auf­tre­ten ers­ter Sym­pto­me. In der Folge kön­nen Sie früh­zei­tig Gegen­maß­nah­men ergrei­fen, die den Aus­bruch ver­hin­dern können.“

Je mehr Bio­mar­ker man nicht zuletzt durch KI-gestütz­te Daten­aus­wer­tun­gen und bes­se­re Ver­füg­bar­keit anony­mer Pati­en­ten­da­ten auf­spü­re, desto bes­se­re The­ra­pie­an­sät­ze könn­ten die Unter­neh­men ent­wi­ckeln. Lange wird es damit nicht mehr dau­ern, des­sen ist Brak­mann gewiss: „In vier bis fünf Jah­ren könn­ten die ers­ten The­ra­pien auf den Markt kom­men.“ Aus Sci­ence-Fic­tion könn­te dann Rea­li­tät gewor­den sein.


Prof. Dr. Christoph U. Herborn: „Personalisierte Therapien sind bei uns bereits Realität“

Porsche Consulting/Andreas Laible

Pro­fes­sor Dr. Chris­toph U. Her­born ist seit August 2022 CEO der Berg­man Cli­nics in Deutsch­land. Berg­man Cli­nics, mit Haupt­sitz in Naar­den in den Nie­der­lan­den, sieht sich als eine inter­na­tio­na­le Platt­form für hoch­spe­zia­li­sier­te, plan­ba­re medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und will gemein­sam mit Her­born vor allem in Deutsch­land wei­te­res Wachs­tum gene­rie­ren. Her­born war zuvor Medi­zi­ni­scher Direk­tor und einer von fünf Kon­zern­ge­schäfts­füh­rern der Askle­pi­os-Grup­pe, die allein in Deutsch­land rund 170 Ein­rich­tun­gen in 14 deut­schen Bun­des­län­dern unter­hält. Das Inter­view für die­sen Arti­kel gab Her­born noch in sei­ner Funk­ti­on als Asklepios-Geschäftsführer.

Anwendung in der Praxis

Oft ist von der Medizin der Zukunft die Rede, wenn die neuen, präzisen Behandlungsansätze zur Sprache kommen. Doch mancherorts scheint die Zukunft bereits angekommen zu sein. „Bei uns, aber auch in anderen Kliniken, sind personalisierte Therapien und entsprechende diagnostische Verfahren bereits Realität“, sagt Professor Dr. Christian U. Herborn.

Der aus­ge­bil­de­te Radio­lo­ge ist seit August 2022 CEO von Berg­man Cli­nics in Deutsch­land. Das Inter­view für die­sen Arti­kel gab er aber noch als Medi­zi­ni­scher Direk­tor und einer von fünf Kon­zern­ge­schäfts­füh­rern der Askle­pi­os-Grup­pe. Die Ver­fah­ren, von denen Her­born spricht, kom­men bei Askle­pi­os in der Onko­lo­gie bei The­ra­pie­stra­te­gien zum Ein­satz, die auf mole­ku­lar­ge­ne­ti­schen Unter­su­chun­gen von Tumo­ren beru­hen. Und das offen­bar mit Erfolg: „Durch die Kom­bi­na­ti­on von klas­si­scher Che­mo­the­ra­pie und der Ver­ab­rei­chung neu­ar­ti­ger Anti­kör­per sind wir in der Lage, das Tumor­wachs­tum zu stop­pen oder die Pri­mär­tu­mo­re sogar zu ver­klei­nern“, berich­tet Herborn.

Tumorboard entscheidet gemeinsam für den Einzelfall

Skep­sis bei Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten gegen­über dem für viele noch unbe­kann­ten The­ra­pie­an­satz beob­ach­tet Her­born nur im Ein­zel­fall. „Die Aller­meis­ten ste­hen den neuen Metho­den auf­ge­schlos­sen gegen­über.“ Ver­trau­en schafft bei Askle­pi­os, dass Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten kei­ner regu­lä­ren Fach­ab­tei­lung zuge­führt wer­den. „Die Tumor­me­di­zin in unse­ren Kli­ni­ken ist statt­des­sen eine inter­dis­zi­pli­nä­re Ange­le­gen­heit“, sagt Her­born. Herz­kam­mer die­ser the­men­über­grei­fen­den Runde ist das „Tumor­board“, in dem Exper­tin­nen und Exper­ten der Onko­lo­gie, Radio­lo­gie, Patho­lo­gie, Strah­len­the­ra­pie und Chir­ur­gie zusam­men­sit­zen. „Gemein­sam fäl­len sie für jeden Ein­zel­fall eine opti­ma­le Therapieentscheidung.“

Am Anfang steht die Finanzierungsfrage

Beschließt die­ses Fach­gre­mi­um den Ein­satz eines indi­vi­du­el­len Ver­fah­rens, stellt sich für den ehe­ma­li­gen Askle­pi­os-Geschäfts­füh­rer als Aller­ers­tes die Finan­zie­rungs­fra­ge. „Per­so­na­li­sier­te The­ra­pien sind oft sehr kost­spie­lig und wer­den in der Regel nicht über den nor­ma­len Medi­zin­ka­ta­log abge­deckt.“ Die Kos­ten­über­nah­me muss Her­born also ent­we­der mit den Kran­ken­kas­sen aus­han­deln oder die The­ra­pie fin­det im Rah­men einer Stu­die statt. „In die­sem Fall bezahlt dann die Pharmaindustrie.“

Dass Her­born die Finan­zie­rungs­fra­ge so sehr ins Zen­trum rückt, mag Zwei­fel schü­ren: Bekom­men nur Pri­vat­ver­si­cher­te die wirk­sa­men, aber teu­ren The­ra­pien? Droht uns durch die Prä­zi­si­ons­me­di­zin gar der Ein­stieg in die Zwei-Klas­sen-Medi­zin? Doch
Her­born winkt ab, will nichts vom eli­tä­ren Cha­rak­ter der inno­va­ti­ven The­ra­pien wis­sen. „Alles, was ver­füg­bar ist und Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten an guter Medi­zin ange­bo­ten wer­den kann, wird auch ange­bo­ten. Man muss hier also nichts demo­kra­ti­sie­ren oder ver­füg­ba­rer machen, als es ohne­hin schon ist.“

Neue Hoffnung für Herz-Kreislauf-Patienten

Auch wenn die neuen Behand­lungs­mög­lich­kei­ten schon zum All­tag in den Kli­ni­ken gehö­ren, denkt Her­born über den Tag hin­aus. „Ich rech­ne damit, dass es uns in den nächs­ten zehn bis fünf­zehn Jah­ren gelin­gen wird, den neuen per­so­na­li­sier­ten The­ra­pie­an­satz aus der Onko­lo­gie auch auf ande­re Berei­che zu über­tra­gen – etwa auf Herz- und Kreis­lauf­erkran­kun­gen.“ Aktu­ell wür­den hier vor­nehm­lich Risi­ko­fak­to­ren berück­sich­tigt, die aus einem unge­sun­den Lebens­wan­del resul­tier­ten und sich etwa in hohen Blut­zu­cker- oder Blut­fett­wer­ten wider­spie­gel­ten. „Die Ermitt­lung eines kar­dio­vas­ku­lä­ren Pro­fils zur idea­len Prä­ven­ti­on von Herz- und Kreis­lauf­erkran­kun­gen könn­te hier­zu eine sinn­vol­le Ergän­zung darstellen.“


Professor Ariel Dora Stern: „Personalisierte Medizin wird Standardtherapie“

Jan Pauls

Ariel Dora Stern ist Asso­cia­te Pro­fes­sor für Busi­ness Admi­nis­tra­ti­on bei der Har­vard Busi­ness School in Bos­ton und hält par­al­lel eine Gast­pro­fes­sur am Digi­tal Health Cen­ter des Hasso-Platt­ner-Insti­tu­tes in Pots­dam. Ihr For­schungs­schwer­punkt liegt im Gesund­heits­sek­tor, ins­be­son­de­re in den Berei­chen Inno­va­ti­on-Manage­ment, Digi­tal Health und der Gesund­heits­öko­no­mie im All­ge­mei­nen. Sie ist Mit­glied des wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats der Deut­schen Gesell­schaft für Digi­ta­le Medi­zin und berät Start-ups im Health­ca­re-Bereich. Vor ihrer aka­de­mi­schen Lauf­bahn arbei­te­te sie unter ande­rem als Öko­no­min an der Wall Street, bei der Fede­ral Reser­ve Bank in New York und am Deut­schen Insti­tut für Wirtschaftsforschung. 

Studiendesign neu gedacht

Die Idee einer individuell ausgerichteten Therapie ist im Grunde nichts Neues. Seit jeher versuchen Mediziner, auf die spezifischen Probleme ihrer Patienten und Patientinnen einzugehen, und berücksichtigen beispielsweise bei der Medikamentendosierung Alter, Geschlecht und Konstitution des/der Einzelnen. Für Professorin Dr. Ariel Dora Stern ist der Begriff „personalisierte Medizin“ deshalb nur schwer abzugrenzen.

„Gene­rell lässt sich aber sagen, dass wir heute The­ra­pien ent­wi­ckeln, die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten deut­lich per­so­na­li­sier­ter und prä­zi­ser adres­sie­ren, als das bis­her mög­lich gewe­sen wäre“, sagt Stern. Es sind diese gra­du­el­len Kri­te­ri­en, die für die Har­vard-Pro­fes­so­rin letzt­lich den Unter­schied machen: „Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass per­so­na­li­sier­te Medi­zin in vie­len Berei­chen über kurz oder lang zur Stan­dard­the­ra­pie wird.“

Aller­dings wird die Ent­wick­lung nicht bei allen Krank­hei­ten in glei­chem Tempo ver­lau­fen: Vor allem in der Krebs­the­ra­pie wird es Stern zufol­ge Fort­schrit­te geben, aber auch von Augen- oder Blut­erkran­kun­gen Betrof­fe­ne wer­den in naher Zukunft ziel­ge­rich­te­ter behan­delt wer­den. „Die Bene­fits für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten sind hoch, denn sie bekom­men Medi­ka­men­te, die auf ihre jewei­li­gen gene­ti­schen Dis­po­si­tio­nen und/oder auf die Gen­mu­ta­tio­nen ihrer Krebs­art aus­ge­rich­tet sind.“

Für Forscher sind veraltete Zulassungsprozesse ein Hindernis

Doch es gibt Hin­der­nis­se, die dem Durch­bruch vie­ler per­so­na­li­sier­ter The­ra­pien im Wege ste­hen. Als einen „Insti­tu­tio­nal Mis­match“ bezeich­net Stern bei­spiels­wei­se die regu­la­to­ri­schen Rah­men­be­din­gun­gen, wel­che die Zulas­sungs­be­hör­den FDA und EMA vor­ge­ben, und die Anfor­de­run­gen, wel­che die For­schung stellt. „Die Regu­la­ri­en stam­men aus dem letz­ten Jahr­hun­dert“, kri­ti­siert die Wis­sen­schaft­le­rin scharf. „Sie pas­sen ein­fach nicht zu den aktu­el­len Anfor­de­run­gen einer neuen, indi­vi­dua­li­sier­ten Medi­zin.“ Ein gutes Bei­spiel sei die Not­wen­dig­keit der Ein­rich­tung soge­nann­ter Platt­form­stu­di­en anstel­le von tra­di­tio­nel­len kli­ni­schen Stu­di­en. „Platt­form­stu­di­en fokus­sie­ren sich auf ein kom­plet­tes Krank­heits­bild und ermög­li­chen es uns, Pati­en­ten­grup­pen anhand von Bio­mar­kern in unter­schied­li­che Stu­di­en­ar­me zu seg­men­tie­ren und meh­re­re Medi­ka­men­te gleich­zei­tig zu tes­ten – das sehen die der­zei­ti­gen Regu­la­ri­en aber nicht direkt vor.“

Ariel Dora Stern macht kei­nen Hehl dar­aus, dass die Ein­rich­tung einer Platt­form­stu­die zeit- und kos­ten­auf­wen­dig ist. Doch ihre Vor­tei­le über­wie­gen aus ihrer Sicht die Nach­tei­le bei wei­tem: „Eine sol­che Stu­die wird nicht wie­der geschlos­sen, nach­dem die ers­ten Test­rei­hen durch­ge­führt wur­den – auf diese Weise wird eine nach­hal­ti­ge For­schung an dem jewei­li­gen Krank­heits­bild ermög­licht.“ Zusätz­lich wür­den ande­re sta­tis­ti­sche Model­le ange­wandt, die dyna­mi­sche Ana­ly­sen zulas­sen und so schnel­ler und effi­zi­en­ter Resul­ta­te brin­gen würden.

Mehr Vertrauen unter Wettbewerbern

Doch es sind nicht nur die Regu­la­ri­en, wel­che die Ein­rich­tung von Platt­form­stu­di­en brem­sen. Denn sol­che For­schungs­ein­rich­tun­gen sind als offe­ne Sys­te­me ange­legt. Das heißt: Es ist nichtnur einUnter­neh­men, das sie durch­führt, meh­re­re kön­nen sich betei­li­gen. „Die Zusam­men­ar­beit von Wett­be­wer­bern ver­kom­pli­ziert ein sol­ches Set-up natür­lich“, räumt die Wis­sen­schaft­le­rin ein, die aktu­ell auch eine Gast­pro­fes­sur am Digi­tal Health Cen­ter des Hasso-Platt­ner-Insti­tu­tes in Pots­dam hält. Ihre Lösung: „Um das nöti­ge Ver­trau­en her­zu­stel­len, hat es sich als sinn­voll erwie­sen, eine Non-Pro­fit-Stif­tung oder eine unab­hän­gi­ge drit­te Par­tei als Koor­di­na­tor und Betrei­ber der Stu­die zu instal­lie­ren.“ Ist eine Platt­form­stu­die erst ein­mal eta­bliert, sind die Ein­tritts­bar­rie­ren auf­grund der bestehen­den Infra­struk­tur dann aber nied­ri­ger als beim regu­lä­ren Modell. „So kön­nen auch klei­ne­re Bio­tech-Fir­men Teil­ge­bie­te erfor­schen und es wer­den Anrei­ze geschaf­fen, um The­ra­pien für sel­te­ne­re Erkran­kun­gen zu ent­wi­ckeln.“ 

Gesundheitssysteme entscheiden über Zugang zu Medikamenten

Ob und wann die Men­schen von der For­schung pro­fi­tie­ren wer­den, hängt nicht nur von der For­schung selbst ab. So gibt Stern zu beden­ken, dass die neuen The­ra­pien zwar oft sehr wirk­sam seien – sie seien aber auch sehr teuer. „Es ist des­halb das Gesund­heits­sys­tem der jewei­li­gen Län­der, das aus­schlag­ge­bend für den Zugang zu den neuen The­ra­pien sein wird.“ Stern beob­ach­tet in den USA der­zeit Ansät­ze zur Finan­zie­rung ent­spre­chen­der Medi­ka­men­te, die aus deut­scher Sicht eher befremd­lich wir­ken. „Dort rei­chen die Model­le von einer Finan­zie­rung über eine Hypo­thek und jähr­li­che Mei­len­stein-Zah­lun­gen bis hin zu einer erfolgs­ab­hän­gi­gen Ver­gü­tung.“ Euro­pa werde hier sicher­lich einen ande­ren Weg gehen. 


Dr. Yacine Hadjiat: „Wir überführen neue technische Möglichkeiten in konkrete Lösungen“

Biogen

Dr. Yaci­ne Had­ji­at ist Glo­bal Head of Digi­tal Health Solu­ti­ons bei
Bio­gen Digi­tal Health (BDH).
Zuvor war er für füh­ren­de Life-Sci­ence-Unter­neh­men sowie Start-ups und staat­li­che Behör­den in der EU, den USA und Asien tätig.
Bio­gen Digi­tal Health wurde 2021 gegrün­det und ist eine glo­ba­le Ein­heit von Bio­gen, die sich der Pio­nier­ar­beit in der per­so­na­li­sier­ten und digi­ta­len Medi­zin in der Neu­ro­wis­sen­schaft widmet.

Neue Apps geben Sicherheit

„Die richtige Behandlung für den richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt – das bedeutet personalisierte Medizin für mich“, meint Dr. Yacine Hadjiat. Als Global Head of Digital Health Solutions bei Biogen Digital Health (BDH) konzentriert sich Hadjiat vor allem auf technische Anwendungen: „KI-gestützte Bildgebungsverfahren, Smartphones, Smartwatches und andere mit Sensoren ausgestattete Wearables erfassen Daten, um die Behandlung exakt an den jeweiligen Patienten anzupassen. Bewegungs-, Sprach-, Schreib- und Lesegewohnheiten – all diese Dinge funktionieren als digitale Biomarker.“

Für Yaci­ne Had­ji­at lie­fern diese digi­ta­len Bio­mar­ker revo­lu­tio­nä­re Daten, wenn es darum geht, das Fort­schrei­ten mul­ti­pler Skle­ro­se und ande­rer neu­ro­mus­ku­lä­rer Erkran­kun­gen nach­zu­ver­fol­gen. Mit Cleo und Kon­ec­tom hat er bereits Lösun­gen gestar­tet, die das Leben der Pati­en­ten mit­hil­fe genau die­ser Tech­no­lo­gien leich­ter machen. Cleo bie­tet MS-Pati­en­ten täg­li­che Unter­stüt­zung, Infor­ma­tio­nen, Tipps, Sym­ptom­ver­fol­gung, eine Erin­ne­rungs­funk­ti­on und ande­re benut­zer­de­fi­nier­te Anwen­dun­gen. Die Down­load­zah­len zei­gen, wie sehr die Pati­en­ten diese App schät­zen: Bis 2022 wurde Cleo welt­weit über 600.000-mal her­un­ter­ge­la­den. Die Kon­ec­tom-Platt­form kon­zen­triert sich auf die Ver­bes­se­rung der Mes­sung neu­ro­lo­gi­scher Erkran­kun­gen. Mit­hil­fe von Smart­phone- und Weara­ble-Sen­so­ren ermög­licht sie Nach­ver­fol­gung, Über­wa­chung und Mes­sung neu­ro­lo­gi­scher Erkran­kun­gen in viel höhe­rer Auf­lö­sung. Kon­ec­tom berück­sich­tigt die wesent­li­chen neu­ro­lo­gi­schen Funk­tio­nen des Pati­en­ten von der Kogni­ti­on bis hin zu fein- und grob­mo­to­ri­schen Fähigkeiten.

Das Ziel Had­ji­ats und sei­nes Teams bei BDH: Tech­no­lo­gie ziel­ge­rich­tet im Sinne der Pati­en­ten­be­dürf­nis­se ein­set­zen und den Wan­del hin zu einer stär­ker pati­en­ten­ori­en­tier­ten und bes­se­ren Ver­sor­gung vor­an­trei­ben. Digi­ta­le Bio­mar­ker spie­len bei die­sem Unter­fan­gen eine ent­schei­den­de Rolle: Sie bie­ten nicht nur eine neue Mög­lich­keit, die eige­ne Erkran­kung zu ver­fol­gen und bes­ser zu behan­deln, auch die Neu­ro­lo­gen kön­nen das Fort­schrei­ten dank der Tech­no­lo­gie genau­er und in einer höhe­ren Auf­lö­sung aus der Ferne beobachten.

Klinische Erkrankungen mithilfe von Apps vorhersagen

Ent­schei­dend für sol­che Lösun­gen ist Smart­phone-Sen­so­ren­tech­no­lo­gie, die die Erfas­sung rele­van­ter Gesund­heits­da­ten unter­stützt. Wenn sich kri­ti­sche Mus­ter zei­gen, wer­den die Neu­ro­lo­gen alar­miert und kön­nen ihren Pati­en­ten bei Bedarf bereits in einem frü­hen Sta­di­um hel­fen. Das Poten­zi­al der neuen Tech­no­lo­gie ergibt sich laut Had­ji­at somit aus der Beob­ach­tung von lang­sam fort­schrei­ten­den Erkran­kun­gen und den Mög­lich­kei­ten die­ser Tech­no­lo­gie zur Vor­her­sa­ge kli­ni­scher Erkran­kun­gen bereits vor ihrem Auftreten.

Digitale Gesundheitslösungen setzen neue Standards

Yaci­ne Had­ji­at ist sicher, dass digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen bald Teil des medi­zi­ni­schen Stan­dards sein wer­den. Es reicht aber nicht, nur Lösun­gen aus der Off­line- in die Online-Welt zu über­tra­gen, sagt er. Eigent­lich, meint er, bie­ten digi­ta­le Gesund­heit und Tech­no­lo­gie ein viel grö­ße­res Ver­spre­chen: „Durch digi­ta­le Gesund­heit kön­nen wir erst­mals neue tech­ni­sche Mög­lich­kei­ten in greif­ba­re Gesund­heits­lö­sun­gen über­tra­gen – das ist etwas völ­lig Neues.“ Had­ji­at erklärt, sein Ziel erreicht zu haben, wenn der Digi­tal-Health-Hype abebbt und digi­ta­le Lösun­gen und Anwen­dun­gen inte­gra­le Bestand­tei­le medi­zi­ni­scher Behand­lungs­stan­dards sind. „Oder anders aus­ge­drückt, wenn digi­ta­le Gesund­heit Nor­ma­li­tät ist.“


Susanne Baars: „Personalisierte Therapien sollten für alle Menschen auf dem Planeten verfügbar sein“

Erik van't Woud

Susan­ne Baars ist Seni­or Glo­bal Thought Lea­der­ship Mana­ger bei
Sie­mens Healt­hi­neers in Erlan­gen und ver­ant­wor­tet als sol­che den Aus­bau der Prä­zi­si­ons­me­di­zin. Par­al­lel dazu lei­tet sie ihr im Jahr 2018 gegrün­de­tes Start-up
Social­Ge­no­mics, das Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten unter­stützt. Hier­zu wer­den mit­hil­fe KI-gesteu­er­ter Netz­wer­ke Infor­ma­tio­nen über Erkran­kun­gen und Tumo­re extra­hiert, die wie­der­um digi­tal mit ähn­li­chen Erkran­kun­gen ver­knüpft wer­den. Auf diese Weise sol­len bewähr­te Prak­ti­ken geteilt wer­den, um geeig­ne­te per­so­na­li­sier­te The­ra­pien zu finden.

Globale Probleme lösen

Susanne Baars ist eine Frau mit einer Mission. Ihr Ziel: nichts Geringeres, als personalisierte Therapien für jeden Menschen auf dem Planeten verfügbar und bezahlbar zu machen. Dafür wirbt sie auf hochkarätigen Veranstaltungen, tritt in TED-Talks auf und hat nicht zuletzt ein eigenes Start-up gegründet, das Krebspatientinnen und -patienten zur für sie geeigneten Therapie verhelfen soll. Gleichzeitig ist sie seit Anfang 2021 als Senior Global Thought Leadership Manager für Siemens Healthineers im Einsatz, wo sie den Ausbau der Präzisionsmedizin verantwortet.

Die per­so­na­li­sier­te Medi­zin ist für Baars eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit: Für sie sind indi­vi­dua­li­sier­te The­ra­pien nicht irgend­ei­ne Nische oder eine Ergän­zung eta­blier­ter Behand­lungs­me­tho­den. Für sie sind sie schlicht Medi­zin. Eine Medi­zin, die schon heute zahl­rei­chen Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten hilft und die jenen, bei denen Krebs oder eine sel­te­ne Krank­heit dia­gnos­ti­ziert wurde, effek­ti­ve­re und scho­nen­de­re Behand­lungs­me­tho­den bie­ten kann. Was sich für man­che wie ein medi­zi­ni­scher Durch­bruch anhört, ist für Baars erst der Anfang: „Wir reden hier von einer Revo­lu­ti­on“, sagt sie. „Erst die gewal­ti­gen Fort­schrit­te bei den Com­pu­ter­ka­pa­zi­tä­ten und bei der welt­wei­ten Ver­net­zung wer­den die volle Kraft der per­so­na­li­sier­ten Medi­zin wirk­lich freisetzen.“

Präzisionsmedizin heißt: Erkennen von Mustern

Pro­gnos­ti­sche Bio­in­for­ma­tik und Maschi­nen­lern-Model­le ermög­li­chen die Samm­lung von Mil­lio­nen von Daten­punk­ten. Das kön­nen Pati­en­ten- oder kli­ni­sche Daten, Labor­tests, Geno­mik oder bild­ge­ben­de Ver­fah­ren sein. Das Sam­meln die­ser Daten sei aber nur ein ers­ter Schritt, sagt Baars: „Daten allein ret­ten kein ein­zi­ges Leben.“ Erst durch die Ana­ly­se der Infor­ma­tio­nen und das Erken­nen von Mus­tern sowie die Ver­füg­bar­ma­chung prak­ti­ka­bler Ein­bli­cke für Medi­zi­ner und Pati­en­ten unab­hän­gig von ihrem Stand­ort ent­ste­he ech­ter medi­zi­ni­scher Fort­schritt. Es gibt nicht „den“ Krebs­pa­ti­en­ten. Also soll­te es auch nicht „die“ Krebs­the­ra­pie geben.

Ziel von Sie­mens Healt­hi­neers ist es nicht nur, pas­sen­de­re The­ra­pien bereit­zu­stel­len, son­dern das Gesund­heits­sys­tem intel­li­gen­ter umzu­ge­stal­ten. „Gemein­sam mit Vari­an, dem füh­ren­den Krebs­the­ra­pie­un­ter­neh­men, das wir letz­tes Jahr über­nom­men haben, set­zen wir künst­li­che Intel­li­genz ein, um ein umfas­sen­des onko­lo­gi­sches Öko­sys­tem auf­zu­bau­en, das Work­flows ver­än­dert.“ Bei­spiels­wei­se lässt sich der Weg von der Dia­gno­se zur The­ra­pie von Wochen auf Stun­den ver­kür­zen. Für Pati­en­ten, Kran­ken­haus­be­trei­ber und die Gesell­schaft bedeu­tet das einen rie­si­gen Unter­schied. Aus Baars’ Sicht muss es das Ziel sein, das aktu­el­le Sys­tem der „Sick-Care“ zu über­win­den und end­lich zu einer ech­ten „Health-Care“ zu gelan­gen, also weg von einer blo­ßen Krank­heits- hin zu einer Gesund­heits­ver­sor­gung zu kom­men. Sie for­mu­liert es so: „Wir haben die Tech­no­lo­gien und das Fach­wis­sen, aber wenn die Pati­en­ten kei­nen Zugang zu den Lösun­gen haben, ist der Zweck nicht erfüllt. Die Daten, die wir im Rah­men der per­so­na­li­sier­ten medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung sam­meln, wer­den den Wech­sel hin zu Früh­erken­nung ermög­li­chen und dazu füh­ren, dass die Men­schen diese Erkran­kun­gen gar nicht erst entwickeln.“

Bei der per­so­na­li­sier­ten Medi­zin geht es nicht nur darum, eini­ge Teile des alten Sys­tems zu ver­fei­nern. Die Visi­on, die Baars antreibt, ist eine Trans­for­ma­ti­on – lebens­ret­ten­de Infor­ma­tio­nen zu orga­ni­sie­ren und sie für alle zugäng­lich zu machen, um so mehr Pati­en­ten Zugang zu per­so­na­li­sier­ten The­ra­pien zu bieten.

Mit Früherkennung und hochpräzisen Diagnosen Gesundheitskosten reduzieren

Aus Sicht von Baars wird der neue Ansatz nicht nur Krank­hei­ten und Leid ver­rin­gern – er wird auch eine Menge Kos­ten ein­spa­ren. So werde bei­spiels­wei­se Krebs bei vie­len Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten heute erst dia­gnos­ti­ziert, wenn er bereits die höchs­te Stufe – Stufe 4 – erreicht oder bereits gestreut habe. Er sei dann nicht nur schwer zu behan­deln, die Behand­lung erfor­de­re wahr­schein­lich auch meh­re­re ver­schie­de­ne Ein­grif­fe, ver­bun­den mit stär­ke­ren Neben­wir­kun­gen für die Pati­en­ten. Das bedeu­tet län­ge­re Kran­ken­haus­auf­ent­hal­te für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten und höhe­re Kos­ten für die Gesund­heits­sys­te­me. „Wenn wir Krebs in einem frü­hen Sta­di­um dia­gnos­ti­zie­ren, kön­nen wir Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten tat­säch­lich hei­len, und die Kos­ten sind viel niedriger.“

Um Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten früh­zei­tig zu errei­chen, wer­den unter­stüt­zen­de Tools wie digi­ta­le Zwil­lin­ge und dis­zi­pli­nen­über­grei­fen­de Onko­lo­gie­platt­for­men eine immer grö­ße­re Rolle spie­len. Ein digi­ta­ler Pati­en­ten­zwil­ling bün­delt kli­ni­sche Daten aus völ­lig ver­schie­de­nen Quel­len; so ent­steht ein vir­tu­el­ler Stell­ver­tre­ter des Pati­en­ten oder der Pati­en­tin, mit des­sen Hilfe der Medi­zi­ner Zeit spart und Simu­la­tio­nen durch­füh­ren kann, durch die zukünf­ti­ge Gesund­heits­sze­na­ri­en offen­ge­legt wer­den. Erkennt der Algo­rith­mus ein kri­ti­sches Mus­ter, schlägt das jewei­li­ge Tool nicht nur Alarm, son­dern zeigt dem Nut­zer auch augen­blick­lich, an wel­che Stel­le im Gesund­heits­sys­tem er sich für eine Unter­su­chung wen­den muss. „Die Kom­bi­na­ti­on aus digi­ta­lem Zwil­ling, KI und per­so­na­li­sier­ter Medi­zin ver­setzt uns in die Lage, für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten das best­mög­li­che Ergeb­nis zu erzie­len“, so Baars. Dies erfolgt anhand der patho­lo­gi­schen und mole­ku­la­ren Beson­der­hei­ten der Tumo­re, Bild­ge­bungs­cha­rak­te­ris­ti­ka, The­ra­pie­his­to­rie und evi­denz­ba­sier­ten Behand­lungs­op­tio­nen in der Erör­te­rung mit Medi­zi­nern und Betrei­bern. „Die Her­aus­for­de­rung besteht darin, unse­re Sys­te­me mit den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten im Mit­tel­punkt neu zu ent­wi­ckeln“, sagt Baars.

An die­ser Stel­le schließt sich der Kreis von Baars’ Argu­men­ta­ti­on. „Ich stel­le mir eine Welt mit welt­weit ver­netz­ten per­so­na­li­sier­ten Gesund­heits­pfa­den vor, die alle mit dem Ziel ent­wi­ckelt wur­den, Effi­zi­en­zen zu heben und Welt­klas­se-The­ra­pien für den Krebs zu lie­fern, damit sich die Wir­kung da am stärks­ten ent­fal­tet, wo es am meis­ten dar­auf ankommt: beim Pati­en­ten oder der Pati­en­tin“, sagt sie. Die große Menge an benö­tig­ten Daten, die für maß­ge­schnei­der­te The­ra­pien not­wen­dig sind, bekom­me man bei man­chen Krank­hei­ten eben nur durch inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit von Pati­en­ten, Medi­zi­nern, staat­li­chen Stel­len und der Gesund­heits­bran­che in einer ech­ten Teaman­stren­gung durch digi­ta­le Lösun­gen auf inter­na­tio­na­ler Ebene, ist sie über­zeugt. Ein­fach gesagt: Je mehr Men­schen von den prä­zi­sen The­ra­pien pro­fi­tie­ren, in diese mit­ein­be­zo­gen wer­den und ihre Daten frei­ge­ben, desto bes­ser für alle. Ein star­ker Anreiz für Län­der mit ent­wi­ckel­ten Gesund­heits­sys­te­men, allen Men­schen auf dem Pla­ne­ten den Zugang zur Prä­zi­si­ons­me­di­zin zu ermöglichen.


Chancen und Risiken für Unternehmen

Fazit

Die von den Expertinnen und Experten skizzierten Umbrüche verdeutlichen, dass die personalisierte Medizin einen echten Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen mit sich bringt. „Das bietet Chancen für diejenigen, die sich frühzeitig strategisch darauf einstellen, und gleichzeitig Risiken für diejenigen Unternehmen – aber auch Gesellschaften –, die die Entwicklung verpassen“, sagt Berater Hipp.

Neue Balance für Datenschutz und Innovationsfähigkeit

Dass Gesund­heits­da­ten und Digi­ta­li­sie­rung im Kon­text von per­so­na­li­sier­ter Medi­zin zukünf­tig eine deut­lich stär­ke­re Rolle spie­len wer­den, haben die Inter­views mit den Exper­tin­nen und Exper­ten bestä­tigt. „Wir emp­feh­len Phar­ma- und Medi­zin­tech­nik­un­ter­neh­men des­halb, in den Aus­bau ihrer Daten­stra­te­gie und ent­spre­chen­de neue Pro­duk­te und Ser­vices zu inves­tie­ren“, sagt Hipp. Ent­wick­lungs­chan­cen auf dem neuen Markt wird es aber nur geben, wenn zumin­dest die Wei­ter­ga­be (teil-) anony­mi­sier­ter Daten ver­ein­facht wird. „Ein siche­rer Umgang mit Daten, der gleich­zei­tig Inno­va­ti­ons­sprün­ge ermög­licht, ist uner­läss­lich“, sagt Hipp. Ziel muss es hier­bei sein, eine „neue Balan­ce“ zu fin­den, die For­schung und Inno­va­tio­nen zum Wohl der Men­schen ermög­licht und ein Höchst­maß an Sicher­heit spe­zi­ell für per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten gewähr­leis­tet. Roman Hipp: „Nicht für jeden und jede mag das ein Argu­ment sein, doch eini­ge inno­va­ti­ve Health-Start-ups haben Deutsch­land bereits den Rücken gekehrt, um in ande­ren Tei­len der Welt For­schung zu betrei­ben und Inno­va­ti­on im Gesund­heits­we­sen zu fördern.“

Unternehmen müssen sich auf dezentrale Logistik einstellen

Durch die neuen Metho­den kom­men auf die phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie gra­vie­ren­de Ver­än­de­run­gen zu. So wer­den Medi­ka­men­te heute in gro­ßen Men­gen für brei­te Grup­pen von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten pro­du­ziert. Die Ansät­ze der Prä­zi­si­ons­me­di­zin erfor­dern es hin­ge­gen, indi­vi­du­el­le Medi­ka­men­te her­zu­stel­len, die Infor­ma­tio­nen aus der Dia­gnos­tik berück­sich­ti­gen oder die sogar Pati­en­ten­zel­len in den Her­stel­lungs­pro­zess inte­grie­ren. „Diese indi­vi­du­el­le und in Teil­be­rei­chen sicher­lich dezen­tra­le Pro­duk­ti­ons­wei­se stellt neue Anfor­de­run­gen an Logis­tik und Tech­nik, auf die sich die Unter­neh­men ein­stel­len müs­sen“, sagt Hipp. Als Ori­en­tie­rungs­hil­fe bie­ten sich den Phar­ma­fir­men aus sei­ner Sicht Kon­zep­te aus der Auto­mo­bil­in­dus­trie an – bei­spiels­wei­se das „Smart Factory“-Prinzip.

Wel­che Unter­neh­men es sein wer­den, die sich im neuen, per­so­na­li­sier­ten Gesund­heits­we­sen durch­set­zen, steht zu die­sem Zeit­punkt kei­nes­falls fest. Gewin­ner wer­den laut Roman Hipp aber in jedem Fall die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten sein: „Sie erwar­tet eine schnel­le­re und prä­zi­se­re Dia­gnos­tik sowie eine erfolg­ver­spre­chen­de­re The­ra­pie mit Aus­sicht auf echte Heilung.“

Das Drei-Phasen-Modell zum Erfolg


Will ein Unternehmen im neuen Markt für personalisierte Medizin erfolgreich sein, muss es Chancen evaluieren, Risiken abschätzen und jeden Schritt strategisch planen. Porsche Consulting hat ein Drei-Phasen-Modell entwickelt, mit dem das möglich ist.
1. Strategie: In einem ersten Schritt gilt es zu entscheiden, ob ein Unternehmen überhaupt einen Markt im Rahmen der personalisierten Medizin für sich definieren kann und wo sich dieser voraussichtlich entwickeln wird. „Investitionen machen nur dann Sinn, wenn Unternehmen eigene Kernkompetenzen einbringen und diese nutzbar machen können“, so Dr. Roman Hipp, Senior Partner bei Porsche Consulting. Wenn eine solche Kernkompetenz grundsätzlich existiert, gelte es, sich gegebenenfalls mit weiteren Partnern zu stärken, „um Investitionen abzusichern und die Erfolgsaussichten durch gebündeltes Know-how und Synergien zu steigern“. Sei ein Partner gefunden, müsse über die Form der Kooperation entschieden werden: Joint-Venture, strategische Allianz, Forschungskooperation sind einige der Möglichkeiten. Weitere wichtige strategische Fragen betreffen die Market-Entry-Strategie. In welcher Region kann das Unternehmen erfolgreich sein und wie stellt sich der Go-to-Market Approach dar, das heißt, wie findet die Therapie konkret Zugang zu Patientinnen und Patienten? Wie findet die Skalierung im Markt statt? 2. Operating Model: In dieser Phase müssen Prozesse, Organisationsstruktur und Fähigkeiten der Mitarbeitenden auf das zu erreichende Ziel hin ausgerichtet werden. Sprich: Kann das Unternehmen mit dem bestehenden Operating Model seine Strategie umsetzen? „Viele Unternehmen haben vielversprechende Strategien entwickelt und scheitern dann aber an der Umsetzung. Die richtigen Prozesse, Strukturen und insbesondere die benötigten Fähigkeiten der Mitarbeitenden sind wesentliche Erfolgsfaktoren für die Implementierung“, so Hipp. 3. Operations: Alle Prozesse, die es dem Unternehmen zukünftig ermöglichen, seine Leistungen im Rahmen der personalisierten Medizin zu erbringen, sollten vorab systematisch durchdacht werden. Zu klären ist beispielsweise die Frage, wie unter den Voraussetzungen der Personalisierung von Medikamenten überhaupt effizient produziert werden kann, da die Stückzahlen meist deutlich geringer sind. „Eine große Herausforderung ist es zudem, die sehr gut ausgebildeten Mitarbeitenden in der richtigen Quantität für das Unternehmen zu gewinnen“, sagt Hipp. Zu klären sei auch, inwieweit Digitalisierung die Herstellprozesse verbessern kann. Eine weitere Herausforderung ist Hipp zufolge zudem die Supply Chain, die bei der personalisierten Medizin ganz anders strukturiert ist als bei der bisherigen Produktion von Pharmazeutika. „Hier gilt es, bereits im Vorfeld einer Investition geeignete und praxistaugliche Prozesse zu definieren – nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern beispielsweise auch gemeinsam mit den Krankenhäusern.“
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