Mehr Präzision
für Patienten
Das Gesundheitswesen steht vor einem Paradigmenwechsel. Unter dem Stichwort „personalisierte Medizin“ wollen Expertinnen und Experten aus Medizin, Genforschung, Pharmazie und IT Therapien und Medikamente gezielt auf einzelne Individuen ausrichten. Insider assoziieren mit den neuen Technologien gewaltige Umbrüche, die auf alle Stakeholder im Gesundheitswesen zukommen. Das Porsche Consulting Magazin hat renommierte Expertinnen und Experten um ihre Einschätzung zu diesem Thema gebeten.
10/2022
Dr. Roman Hipp, Senior Partner bei Porsche Consulting und hier verantwortlich für den Bereich Life Science Practice, sieht deshalb große Chancen in der zunehmenden Personalisierung von Therapien. „Der Umfang verfügbarer Gesundheitsdaten nimmt ständig zu. Sie lassen sich mit künstlicher Intelligenz auswerten. Hinzu kommen die Fortschritte in der Genforschung. Beides zusammen schafft enorme Potenziale, damit eine noch individualisiertere Behandlung schon bald Realität werden kann.“
Die Zukunft der personalisierten Medizin hat längst begonnen
Der Schlüssel zu einem noch größeren Behandlungserfolg ist die „personalisierte Medizin“: Den Patientinnen und Patienten soll jeweils die richtige Medizin in der richtigen Dosierung zum richtigen Zeitpunkt verabreicht werden. Das sei keine ferne Utopie, sagt Hipp, das Gegenteil sei der Fall. „Die Zukunft dieser neuen, präzisen Medizin hat schon längst begonnen.“
Patientinnen und Patienten profitieren schon heute
Ein Beispiel ist die Behandlung von an Brustkrebs erkrankten Patientinnen: Rund 20 Prozent der Patientinnen mit Mammakarzinom sind Träger eines stark überexprimierten HER2-Rezeptors. Wird dieser im Rahmen einer genetischen Analyse festgestellt, steht den Betroffenen eine personalisierte Therapie mit dem Antikörper Trastuzumab zur Verfügung. Der Wirkstoff bindet an den HER2-Rezeptor und hemmt so das Wachstum der Krebszellen. Für Patientinnen, die keinen überexprimierten HER2-Rezeptor aufweisen, ist die Therapie hingegen wirkungslos.
Das Beispiel steht für immer mehr Fälle, in denen die Prinzipien einer noch individualisierteren beziehungsweise noch stärker auf bestimmte Personengruppen ausgerichteten Therapieform bereits umgesetzt werden. „Wir schätzen, dass Methoden der personalisierten Medizin schon ab 2030 in der Breite angewendet werden“, sagt Hipp, der bei Porsche Consulting den Bereich Life Sciences verantwortet. „Bis dahin wird sich das Gesundheitswesen als Ganzes weiter transformieren – es bahnt sich ein echter Umbruch an.“
Digitalisierung treibt die Entwicklung
Ein wesentlicher Treiber der Entwicklung ist die zunehmende Digitalisierung. So wird es laut Hipp durch die Analyse großer Informations- und Datenmengen zukünftig möglich sein, Ursachen von Krankheiten zu identifizieren, die bis dato unbekannt sind. Schon jetzt generieren Patientinnen und Patienten durch den Einsatz von Smartwatches, Smartphones oder anderen Wearables von Tag zu Tag neue individuelle Informationen. „Real World Data ermöglichen es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, noch effektivere Therapien zu entwickeln, und Ärztinnen und Ärzten, ihre Diagnosen immer weiter zu präzisieren.“
Doch das ist erst der Anfang. Denn während Deutschland noch über die digitale Gesundheitsakte diskutiert, sprechen viele Expertinnen und Experten bereits von einem digitalen Zwilling. Hierbei handelt es sich um ein digitales Abbild des Menschen mit Informationen über biologische Funktionen, Expressionsmuster von Genen und den individuellen Bedarf für Präventionsmaßnahmen einer und eines jeden Einzelnen. Hipp: „In der Zukunft werden potenzielle Therapien im Hinblick auf ihre Wirksamkeit, aber auch mögliche Nebenwirkungen zunächst am digitalen Ich getestet werden.“
Neue Chancen für Unternehmen
Die personalisierte Medizin formuliert aber nicht nur ein Versprechen für Patientinnen und Patienten – sie eröffnet auch neue Chancen für Unternehmen. „Die Bedeutung personalisierter Medizin wird in den kommenden Jahren für alle Akteure im Gesundheitswesen noch weiter zunehmen und letztlich dazu führen, dass das Thema Gesundheit ganz neu gedacht wird“, erklärt Hipp. „Bis es so weit ist, müssen sich Unternehmen, politische Entscheidungsträger und die Gesellschaft als Ganzes den Herausforderungen stellen, die das Neue wie immer mit sich bringt.“
Mit dem Drei-Phasen-Modell zum Erfolg
Als Berater und Wirtschaftsexperte konzentriert sich Roman Hipp in erster Linie auf die Unternehmen, die in der Umbruchssituation neue Chancen realisieren wollen. Diese müssten im Wesentlichen drei Phasen durchdenken, bevor sie in personalisierte Medizin als Geschäftsfeld investieren (siehe Infokasten): Am Anfang steht die strategische Entscheidung, inwieweit das Unternehmen personalisierte Therapien, wie beispielsweise Zell- und Gentherapien, in das Portfolio aufnehmen soll. „Die zentrale Frage lautet hier, ob das eigene Unternehmen die nötigen Kernkompetenzen bereits besitzt beziehungsweise Partnerunternehmen findet, um sich den neuen Markt zu erschließen – denn nur dann machen Investitionen überhaupt Sinn“, erklärt der
Porsche Consulting-Experte. Könne man an diese Frage einen Haken machen, müssen im zweiten Schritt „Prozesse, Organisationsstruktur und die Fähigkeiten der Mitarbeitenden auf das zu erreichende Ziel hin ausgerichtet werden. Für die erfolgreiche Umsetzung sind dann auch kleinteiligere Herstellungsprozesse und eine komplexere Supply Chain effizient zu managen.“
Inga Bergen: „Wir brauchen einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff“
Inga Bergen ist Unternehmerin und Expertin für Innovationen und Digitalisierung im Gesundheitswesen. Als Geschäftsführerin hat sie den Digital-Health-Software-Dienstleister welldoo und das Start-up Magnosco aufgebaut, das die Hautkrebsdiagnostik mittels Laser-Technologie und künstlicher Intelligenz voranbringen will. In ihrem Podcast „Visionäre der Gesundheit“ diskutiert sie zukunftsweisende Themen mit anderen Expertinnen und Experten. Im Herbst 2022 erscheint ihr neues Buch „Visionäre der Gesundheit“.
Behandlungen überprüfen, bevor sie zur Anwendung kommen
Um diesem Ideal gerecht zu werden, muss Gesundheit aber ganz neu gedacht werden. Bergen spricht in diesem Zusammenhang von einem „holistischen Gesundheitsbegriff“, der entwickelt werden müsse. Der Ansatz klingt vielversprechend, stellt er doch den Patienten oder die Patientin mit all seinen bzw. ihren Daten ins Zentrum. Die Hoffnung: Die individuelle Wirkung einer medizinischen Intervention soll genau erfasst werden – am besten schon im Vorfeld der Therapie. „Das könnte mithilfe eines digitalen Abbilds des Menschen möglich werden, das seine Biologie, seine Gene und weitere individuelle Merkmale widerspiegelt“, erklärt Bergen. Damit unterstützt sie das Konzept eines „digitalen Zwillings“, das auch Life-Sciences-Experte
Roman Hipp als visionäres Ziel definiert. Laut Bergen wäre ein solcher digitaler Zwilling ein großer Gewinn für Mediziner und Patienten: „Die Effekte einer Therapie könnten überprüft werden, bevor sie tatsächlich zur Anwendung kommt. Im Anschluss kann zudem erfasst werden, wie die Therapie gewirkt hat.“
Der Ansatz wirkt revolutionär. Und laut Bergen trügt der Schein nicht: „Die Auswirkungen personalisierter Therapien auf den gesamten medizinischen Sektor werden fundamental sein.“ So sei denkbar, dass sich die Gesundheitsindustrie zu einer „hyperlokalisierten Ökonomie“ weiterentwickele, um Patienten und Patientinnen mit der jeweils individuell auf sie abgestimmten Medizin zu versorgen. Die Produktion von Medikamenten würde Bergen zufolge dann direkt am Point of Care stattfinden – so, wie das heute teilweise schon im Rahmen der Car-T-Zelltherapie oder in ganz anderer Form bei Anbietern wie Amazon Pillpack geschieht.
Wandel benötigt andere Anreize
Ein Selbstläufer sind diese Entwicklungen aber nicht. Denn um Visionen wie diese möglich zu machen, müssen im Gesundheitswesen andere Anreize gesetzt werden, sagt Bergen. Zudem müsse verstärkt in Innovationen investiert werden, die personalisierte, individualisierte Medizin erst möglich machten. „Mit Geld allein ist es nicht getan, denn diese Innovationen beruhen im Wesentlichen auf Daten“, gibt Bergen zu bedenken. „Nur wenn wir Daten digitalisieren, standardisieren und zugänglich machen, verstehen wir: Was wirkt bei wem?“
Offene Diskussion zum Thema Daten
Als Hindernis auf dem Weg zu einer präziseren Medizin sieht Bergen deshalb die öffentliche Diskussion rund um ebendieses Thema: „Oft ist der mediale Diskurs von Skepsis geprägt, sobald über Gesundheitsdaten gesprochen wird. Daten zu teilen, soll aber keine Angst machen, sondern der Nutzen für Patientinnen und Patienten sollte im Vordergrund stehen.“ Die Expertin, die auch einen eigenen Podcast zu Gesundheitsthemen betreibt, wirbt deshalb für eine offene Diskussion und eine Neubewertung des Themas. „Wenn Patientinnen und Patienten klar ist, dass sie einen Gegenwert für ihre Daten erhalten, teilen sie Daten auch – wir brauchen deshalb ein positives, zukunftsgerichtetes Narrativ in unserer Gesellschaft, damit Innovation sich in Deutschland entfalten kann.“
Dr. Bernd Boidol: „Was vor 20 Jahren ein Todesurteil war, ist jetzt eine chronische Erkrankung“
Dr. Bernd Boidol ist seit September 2020 CEO beim Pharmazie-Start-up Proxygen in Wien. Zuvor war er Berater bei Porsche Consulting in den Bereichen Medizintechnik und Pharma. Proxygen kreiert eine Plattform zur systematischen Erforschung sogenannter Molecular Glue Degraders. Diese könnten die Entwicklung von Medikamenten revolutionieren, indem sie krankheitserregende Eiweiße gezielt ansteuern, „verkleben“ und damit unschädlich machen. Im Juni 2022 hat das Start-up eine 500-Millionen-Euro-Partnerschaft mit dem deutschen Pharmariesen Merck unterzeichnet, um die Glue Degraders weiter zu erforschen.
Präzise Therapien entwickeln und erfolgreich anwenden
Boidol spricht aus den genannten Gründen lieber von „Präzisionsmedizin“. Für ihn wäre das der Versuch, „in einem ersten Schritt mithilfe der neuesten Technologien ein extrem präzises Verständnis der jeweiligen Krankheit zu bekommen und in einem zweiten Schritt eine sehr präzise Behandlung für genau diese Krankheit zu finden und anzubieten.“ Dass Boidol gerade das Krankheitsverständnis so sehr hervorhebt, hat seinen guten Grund: „Die molekularen Ursachen einer Erkrankung werden oft unterschätzt – doch nur dann, wenn wir eine Krankheit wirklich verstanden haben, können wir eine präzise Therapie entwickeln und erfolgreich anwenden.“
Auch wenn Boidol die Definition des Themas etwas enger fasst, ist er sich doch mit vielen anderen Experten in einer Sache einig: Es ist vor allem die Onkologie, bei der die neuen Methoden bereits für enorme Fortschritte gesorgt haben. Beispiel Chronische Myeloische Leukämie: Bei Menschen, die unter dieser Form der Leukämie leiden, liegt in vielen Fällen ursächlich eine spezifische Genmutation vor. Wird die Mutation klinisch getestet, kann ein neuartiges Medikament verabreicht werden, das diese Genvariante selektiv bindet und so ihre Funktion unterdrückt – und das mit nur minimalen Nebenwirkungen. Boidol: „Was vor 20 Jahren noch ein Todesurteil war, ist jetzt eine auf zehn, fünfzehn Jahre behandelbare chronische Erkrankung.“
Fortschritt nur mit mehr Daten möglich
Und noch in einer anderen Sache ist sich der Proxygen-Chef mit den meisten Experten einig: Schnelle Fortschritte in der Präzisionsmedizin sind für ihn nur zu haben, wenn mehr Daten von Patientinnen und Patienten zugänglich gemacht werden. „Die Daten sind da – das Problem ist der strenge und somit limitierende Datenschutz.“ In der Tat stellt sich die Frage, warum ein Krankenhaus seine Daten nicht zumindest anonymisiert verkaufen darf. Immerhin würden die Daten genutzt, um Medikamente zu entwickeln, die Schwerkranken helfen könnten und somit Leiden lindern. „Ich finde, das sollte möglich sein“, sagt Boidol. Es müsse dabei nur nachvollziehbar sein, „dass der Nutzen für Patientinnen und Patienten im Fokus steht.“
Preisfindung den Unternehmen überlassen
Akuten Bedarf an darüber hinausgehenden Maßnahmen, um speziell den neuen Methoden zum Durchbruch zu verhelfen, sieht Boidol aktuell nicht, denn „vieles, was die pharmazeutische Industrie als Ganzes voranbringen würde, wäre auch beim Blick auf die Präzisionsmedizin sinnvoll.“ Aus seiner Sicht würde es den medizinischen Fortschritt schon fördern, wenn man die Preisfindung von bestimmten Medikamenten, beispielsweise Antibiotika, den Unternehmen überlassen und auf etwaige Preisdeckelungen verzichten würde. „Wie heilsam und wettbewerbsfördernd das sein kann, haben wir bei der schnellen und erfolgreichen Entwicklung der Corona-Impfstoffe beobachten können.“
Dr. Dorothee Brakmann: „Wir werden Krankheiten aufhalten, bevor sie ausbrechen“
Dr. Dorothee Brakmann ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Janssen Deutschland und verantwortet dort als Direktorin den Geschäftsbereich Onkologie / Hämatologie. Ihre Karriere bei Janssen Deutschland begann sie bereits 2008 als Leiterin Gesundheitspolitik, zuvor war Dr. Brakmann unter anderem als Krankenhausapothekerin in Großbritannien sowie für Kostenträger im Gesundheitswesen tätig und entwickelte pharmaökonomische Softwarelösungen für Apotheken. Das Pharmaunternehmen Janssen gehört zum weltweit agierenden Gesundheitskonzern
Johnson & Johnson.
Möglich machen sollen dies vielversprechende Innovationen aus dem Bereich der personalisierten Medizin. „Wir müssen weg vom One-Pill-Fits-All-Ansatz und hin zu möglichst auf individuelle Diagnose und Bedürfnisse abgestimmten Therapien“, fordert Brakmann. „Wir müssen den Reparaturbetrieb für Kranke – viel mehr ein Kranken- als ein Gesundheitssystem – hinter uns lassen und ein Gesundheitssystem etablieren, das diesen Namen verdient.“
Die individuell richtige Therapie zur individuell richtigen Zeit
Das Gute: Der Anfang ist getan, der Einstieg in die neue Welt der Präzisionsmedizin bereits geglückt. Insgesamt 97 in Deutschland zugelassene Medikamente erfüllen laut aktuellen Daten des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen den Anspruch einer zielgerichteten Therapie, der Großteil davon ist in der Onkologie im Einsatz, zitiert Dorothee Brakmann. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie die individuelle genetische Ausstattung der betroffenen Patientinnen und Patienten berücksichtigen. Das heißt: Bevor eines dieser Medikamente verabreicht wird, überprüfen Mediziner und Medizinerinnen das Erbgut des/der Erkrankten. Diese biochemischen und genetischen Voruntersuchungen zeigen hierbei, welches Präparat eine gute Wirkung und welches vermutlich keine positiven Auswirkungen haben wird. „Auf diese Weise bekommt der richtige Patient zur richtigen Zeit den richtigen Wirkstoff“, sagt
Brakmann.
Die Onkologie macht nur den Anfang
Dass dieser genetische Ansatz vor allem in der Onkologie zum Einsatz kommt, hat seinen guten Grund: „Eine Krebserkrankung ist eine Erkrankung der Gene“, erklärt Dorothee Brakmann. Entsprechend lohnend ist es, sich hier nach genetischen Merkmalen auf die Suche zu machen und diese im Vorfeld einer Therapie zu untersuchen. Auch Janssen forscht in diesem Bereich und entwickelt unter anderem Wirkstoffe gegen Lungenkrebs, Prostatakrebs, Blasenkrebs und verschiedene Blutkrebsarten. Laut Brakmann bleibt die Präzisionsmedizin aber nicht auf die Krebstherapie beschränkt: „Die Onkologie hat den Anfang gemacht, die anderen Therapiegebiete ziehen bereits nach.“
So haben fast alle Forschungsgebiete, in denen Janssen aktiv ist, einen personalisierten Ansatz – „mit allen Problemen, die das mit sich bringt“, sagt Brakmann. Eines davon sind die deutlich kleineren, selektiv auf die genetischen Merkmale hin ausgewählten Patientenkohorten, die für klinische Studien gefunden werden müssen, wenn immer spezifischere Subgruppen einer Erkrankung erforscht werden. Ein anderes sind die hohen Kosten, die für ein Medikament aufgerufen werden, mit dem nur wenige, aber dafür zielgerichtet, therapiert werden. Brakmann: „Die Ressourcen des Gesundheitssystems sind endlich – das ist auch uns durchaus bewusst.“
Das magische Dreieck des Gesundheitssystems
Die Pharmaexpertin zieht deshalb eine „feine Linie“ zwischen den drei Stellschrauben im Gesundheitssystem: dem Zugang der Patientinnen und Patienten zu Medikamenten, der Bezahlbarkeit des Systems und den Innovationsanreizen für die forschenden Unternehmen. „Wir brauchen hier einen guten Dialog zwischen allen Beteiligten“, fordert sie. Und weiß besser als jede andere, dass das leicht gesagt ist, denn: „Wenn Sie an einer Stellschraube drehen, bewegen Sie dabei immer auch die beiden anderen Stellschrauben in diesem magischen Dreieck.“
Während Brakmann den Zulassungsbehörden einen guten Job attestiert, hakt es aus ihrer Sicht bei den Erstattungssystemen – auch in Deutschland. „Hier sind immer noch viel zu viele Old-School-Modelle verbreitet“, sagt sie und meint die großen, randomisierten klinischen Studien, welche die Kostenträger einfordern. „Natürlich ist das der Goldstandard“, räumt Brakmann ein. „Aber wenn Sie Medikamente für sehr kleine Patientengruppen entwickeln, ist es sehr schwierig, solche umfassenden Studien vorzulegen.“ Für einen echten Durchbruch bei der Präzisionsmedizin brauche es deshalb weitere Anpassungen im System – neben einer Freigabe von anonymisierten Gesundheitsdaten, die Brakmann wie viele andere Expertinnen und Experten einfordert.
Mit Biomarkern Krankheiten verhindern
Entscheide man sich dafür, im magischen Dreieck des Gesundheitswesens an der Schraube für die Innovationsanreize zu drehen, steht auch der Zukunft nichts im Weg. Der Zukunft, in der wir Krankheiten aufhalten, bevor sie ausbrechen. „Disease Interception“ lautet bei Janssen der Fachbegriff für diesen Ansatz. Er funktioniert im Grunde ganz ähnlich wie der der personalisierten Krebstherapie: über die Identifikation von Biomarkern, beispielsweise bestimmten Genmutationen, die ein Krankheitsbild wahrscheinlicher machen. „Haben Sie einen solchen Prädiktor bei einer Patientin, einem Patienten ermittelt, lässt sich ein besonders hohes Risiko für eine Erkrankung diagnostizieren – schon vor dem Auftreten erster Symptome. In der Folge können Sie frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen, die den Ausbruch verhindern können.“
Je mehr Biomarker man nicht zuletzt durch KI-gestützte Datenauswertungen und bessere Verfügbarkeit anonymer Patientendaten aufspüre, desto bessere Therapieansätze könnten die Unternehmen entwickeln. Lange wird es damit nicht mehr dauern, dessen ist Brakmann gewiss: „In vier bis fünf Jahren könnten die ersten Therapien auf den Markt kommen.“ Aus Science-Fiction könnte dann Realität geworden sein.
Prof. Dr. Christoph U. Herborn: „Personalisierte Therapien sind bei uns bereits Realität“
Professor Dr. Christoph U. Herborn ist seit August 2022 CEO der Bergman Clinics in Deutschland. Bergman Clinics, mit Hauptsitz in Naarden in den Niederlanden, sieht sich als eine internationale Plattform für hochspezialisierte, planbare medizinische Versorgung und will gemeinsam mit Herborn vor allem in Deutschland weiteres Wachstum generieren. Herborn war zuvor Medizinischer Direktor und einer von fünf Konzerngeschäftsführern der Asklepios-Gruppe, die allein in Deutschland rund 170 Einrichtungen in 14 deutschen Bundesländern unterhält. Das Interview für diesen Artikel gab Herborn noch in seiner Funktion als Asklepios-Geschäftsführer.
Der ausgebildete Radiologe ist seit August 2022 CEO von Bergman Clinics in Deutschland. Das Interview für diesen Artikel gab er aber noch als Medizinischer Direktor und einer von fünf Konzerngeschäftsführern der Asklepios-Gruppe. Die Verfahren, von denen Herborn spricht, kommen bei Asklepios in der Onkologie bei Therapiestrategien zum Einsatz, die auf molekulargenetischen Untersuchungen von Tumoren beruhen. Und das offenbar mit Erfolg: „Durch die Kombination von klassischer Chemotherapie und der Verabreichung neuartiger Antikörper sind wir in der Lage, das Tumorwachstum zu stoppen oder die Primärtumore sogar zu verkleinern“, berichtet Herborn.
Tumorboard entscheidet gemeinsam für den Einzelfall
Skepsis bei Patientinnen und Patienten gegenüber dem für viele noch unbekannten Therapieansatz beobachtet Herborn nur im Einzelfall. „Die Allermeisten stehen den neuen Methoden aufgeschlossen gegenüber.“ Vertrauen schafft bei Asklepios, dass Patientinnen und Patienten keiner regulären Fachabteilung zugeführt werden. „Die Tumormedizin in unseren Kliniken ist stattdessen eine interdisziplinäre Angelegenheit“, sagt Herborn. Herzkammer dieser themenübergreifenden Runde ist das „Tumorboard“, in dem Expertinnen und Experten der Onkologie, Radiologie, Pathologie, Strahlentherapie und Chirurgie zusammensitzen. „Gemeinsam fällen sie für jeden Einzelfall eine optimale Therapieentscheidung.“
Am Anfang steht die Finanzierungsfrage
Beschließt dieses Fachgremium den Einsatz eines individuellen Verfahrens, stellt sich für den ehemaligen Asklepios-Geschäftsführer als Allererstes die Finanzierungsfrage. „Personalisierte Therapien sind oft sehr kostspielig und werden in der Regel nicht über den normalen Medizinkatalog abgedeckt.“ Die Kostenübernahme muss Herborn also entweder mit den Krankenkassen aushandeln oder die Therapie findet im Rahmen einer Studie statt. „In diesem Fall bezahlt dann die Pharmaindustrie.“
Dass Herborn die Finanzierungsfrage so sehr ins Zentrum rückt, mag Zweifel schüren: Bekommen nur Privatversicherte die wirksamen, aber teuren Therapien? Droht uns durch die Präzisionsmedizin gar der Einstieg in die Zwei-Klassen-Medizin? Doch
Herborn winkt ab, will nichts vom elitären Charakter der innovativen Therapien wissen. „Alles, was verfügbar ist und Patientinnen und Patienten an guter Medizin angeboten werden kann, wird auch angeboten. Man muss hier also nichts demokratisieren oder verfügbarer machen, als es ohnehin schon ist.“
Neue Hoffnung für Herz-Kreislauf-Patienten
Auch wenn die neuen Behandlungsmöglichkeiten schon zum Alltag in den Kliniken gehören, denkt Herborn über den Tag hinaus. „Ich rechne damit, dass es uns in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren gelingen wird, den neuen personalisierten Therapieansatz aus der Onkologie auch auf andere Bereiche zu übertragen – etwa auf Herz- und Kreislauferkrankungen.“ Aktuell würden hier vornehmlich Risikofaktoren berücksichtigt, die aus einem ungesunden Lebenswandel resultierten und sich etwa in hohen Blutzucker- oder Blutfettwerten widerspiegelten. „Die Ermittlung eines kardiovaskulären Profils zur idealen Prävention von Herz- und Kreislauferkrankungen könnte hierzu eine sinnvolle Ergänzung darstellen.“
Professor Ariel Dora Stern: „Personalisierte Medizin wird Standardtherapie“
Ariel Dora Stern ist Associate Professor für Business Administration bei der Harvard Business School in Boston und hält parallel eine Gastprofessur am Digital Health Center des Hasso-Plattner-Institutes in Potsdam. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Gesundheitssektor, insbesondere in den Bereichen Innovation-Management, Digital Health und der Gesundheitsökonomie im Allgemeinen. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin und berät Start-ups im Healthcare-Bereich. Vor ihrer akademischen Laufbahn arbeitete sie unter anderem als Ökonomin an der Wall Street, bei der Federal Reserve Bank in New York und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.
„Generell lässt sich aber sagen, dass wir heute Therapien entwickeln, die Patientinnen und Patienten deutlich personalisierter und präziser adressieren, als das bisher möglich gewesen wäre“, sagt Stern. Es sind diese graduellen Kriterien, die für die Harvard-Professorin letztlich den Unterschied machen: „Es ist davon auszugehen, dass personalisierte Medizin in vielen Bereichen über kurz oder lang zur Standardtherapie wird.“
Allerdings wird die Entwicklung nicht bei allen Krankheiten in gleichem Tempo verlaufen: Vor allem in der Krebstherapie wird es Stern zufolge Fortschritte geben, aber auch von Augen- oder Bluterkrankungen Betroffene werden in naher Zukunft zielgerichteter behandelt werden. „Die Benefits für die Patientinnen und Patienten sind hoch, denn sie bekommen Medikamente, die auf ihre jeweiligen genetischen Dispositionen und/oder auf die Genmutationen ihrer Krebsart ausgerichtet sind.“
Für Forscher sind veraltete Zulassungsprozesse ein Hindernis
Doch es gibt Hindernisse, die dem Durchbruch vieler personalisierter Therapien im Wege stehen. Als einen „Institutional Mismatch“ bezeichnet Stern beispielsweise die regulatorischen Rahmenbedingungen, welche die Zulassungsbehörden FDA und EMA vorgeben, und die Anforderungen, welche die Forschung stellt. „Die Regularien stammen aus dem letzten Jahrhundert“, kritisiert die Wissenschaftlerin scharf. „Sie passen einfach nicht zu den aktuellen Anforderungen einer neuen, individualisierten Medizin.“ Ein gutes Beispiel sei die Notwendigkeit der Einrichtung sogenannter Plattformstudien anstelle von traditionellen klinischen Studien. „Plattformstudien fokussieren sich auf ein komplettes Krankheitsbild und ermöglichen es uns, Patientengruppen anhand von Biomarkern in unterschiedliche Studienarme zu segmentieren und mehrere Medikamente gleichzeitig zu testen – das sehen die derzeitigen Regularien aber nicht direkt vor.“
Ariel Dora Stern macht keinen Hehl daraus, dass die Einrichtung einer Plattformstudie zeit- und kostenaufwendig ist. Doch ihre Vorteile überwiegen aus ihrer Sicht die Nachteile bei weitem: „Eine solche Studie wird nicht wieder geschlossen, nachdem die ersten Testreihen durchgeführt wurden – auf diese Weise wird eine nachhaltige Forschung an dem jeweiligen Krankheitsbild ermöglicht.“ Zusätzlich würden andere statistische Modelle angewandt, die dynamische Analysen zulassen und so schneller und effizienter Resultate bringen würden.
Mehr Vertrauen unter Wettbewerbern
Doch es sind nicht nur die Regularien, welche die Einrichtung von Plattformstudien bremsen. Denn solche Forschungseinrichtungen sind als offene Systeme angelegt. Das heißt: Es ist nichtnur einUnternehmen, das sie durchführt, mehrere können sich beteiligen. „Die Zusammenarbeit von Wettbewerbern verkompliziert ein solches Set-up natürlich“, räumt die Wissenschaftlerin ein, die aktuell auch eine Gastprofessur am Digital Health Center des Hasso-Plattner-Institutes in Potsdam hält. Ihre Lösung: „Um das nötige Vertrauen herzustellen, hat es sich als sinnvoll erwiesen, eine Non-Profit-Stiftung oder eine unabhängige dritte Partei als Koordinator und Betreiber der Studie zu installieren.“ Ist eine Plattformstudie erst einmal etabliert, sind die Eintrittsbarrieren aufgrund der bestehenden Infrastruktur dann aber niedriger als beim regulären Modell. „So können auch kleinere Biotech-Firmen Teilgebiete erforschen und es werden Anreize geschaffen, um Therapien für seltenere Erkrankungen zu entwickeln.“
Gesundheitssysteme entscheiden über Zugang zu Medikamenten
Ob und wann die Menschen von der Forschung profitieren werden, hängt nicht nur von der Forschung selbst ab. So gibt Stern zu bedenken, dass die neuen Therapien zwar oft sehr wirksam seien – sie seien aber auch sehr teuer. „Es ist deshalb das Gesundheitssystem der jeweiligen Länder, das ausschlaggebend für den Zugang zu den neuen Therapien sein wird.“ Stern beobachtet in den USA derzeit Ansätze zur Finanzierung entsprechender Medikamente, die aus deutscher Sicht eher befremdlich wirken. „Dort reichen die Modelle von einer Finanzierung über eine Hypothek und jährliche Meilenstein-Zahlungen bis hin zu einer erfolgsabhängigen Vergütung.“ Europa werde hier sicherlich einen anderen Weg gehen.
Dr. Yacine Hadjiat: „Wir überführen neue technische Möglichkeiten in konkrete Lösungen“
Dr. Yacine Hadjiat ist Global Head of Digital Health Solutions bei
Biogen Digital Health (BDH). Zuvor war er für führende Life-Science-Unternehmen sowie Start-ups und staatliche Behörden in der EU, den USA und Asien tätig.
Biogen Digital Health wurde 2021 gegründet und ist eine globale Einheit von Biogen, die sich der Pionierarbeit in der personalisierten und digitalen Medizin in der Neurowissenschaft widmet.
Für Yacine Hadjiat liefern diese digitalen Biomarker revolutionäre Daten, wenn es darum geht, das Fortschreiten multipler Sklerose und anderer neuromuskulärer Erkrankungen nachzuverfolgen. Mit Cleo und Konectom hat er bereits Lösungen gestartet, die das Leben der Patienten mithilfe genau dieser Technologien leichter machen. Cleo bietet MS-Patienten tägliche Unterstützung, Informationen, Tipps, Symptomverfolgung, eine Erinnerungsfunktion und andere benutzerdefinierte Anwendungen. Die Downloadzahlen zeigen, wie sehr die Patienten diese App schätzen: Bis 2022 wurde Cleo weltweit über 600.000-mal heruntergeladen. Die Konectom-Plattform konzentriert sich auf die Verbesserung der Messung neurologischer Erkrankungen. Mithilfe von Smartphone- und Wearable-Sensoren ermöglicht sie Nachverfolgung, Überwachung und Messung neurologischer Erkrankungen in viel höherer Auflösung. Konectom berücksichtigt die wesentlichen neurologischen Funktionen des Patienten von der Kognition bis hin zu fein- und grobmotorischen Fähigkeiten.
Das Ziel Hadjiats und seines Teams bei BDH: Technologie zielgerichtet im Sinne der Patientenbedürfnisse einsetzen und den Wandel hin zu einer stärker patientenorientierten und besseren Versorgung vorantreiben. Digitale Biomarker spielen bei diesem Unterfangen eine entscheidende Rolle: Sie bieten nicht nur eine neue Möglichkeit, die eigene Erkrankung zu verfolgen und besser zu behandeln, auch die Neurologen können das Fortschreiten dank der Technologie genauer und in einer höheren Auflösung aus der Ferne beobachten.
Klinische Erkrankungen mithilfe von Apps vorhersagen
Entscheidend für solche Lösungen ist Smartphone-Sensorentechnologie, die die Erfassung relevanter Gesundheitsdaten unterstützt. Wenn sich kritische Muster zeigen, werden die Neurologen alarmiert und können ihren Patienten bei Bedarf bereits in einem frühen Stadium helfen. Das Potenzial der neuen Technologie ergibt sich laut Hadjiat somit aus der Beobachtung von langsam fortschreitenden Erkrankungen und den Möglichkeiten dieser Technologie zur Vorhersage klinischer Erkrankungen bereits vor ihrem Auftreten.
Digitale Gesundheitslösungen setzen neue Standards
Yacine Hadjiat ist sicher, dass digitale Gesundheitsanwendungen bald Teil des medizinischen Standards sein werden. Es reicht aber nicht, nur Lösungen aus der Offline- in die Online-Welt zu übertragen, sagt er. Eigentlich, meint er, bieten digitale Gesundheit und Technologie ein viel größeres Versprechen: „Durch digitale Gesundheit können wir erstmals neue technische Möglichkeiten in greifbare Gesundheitslösungen übertragen – das ist etwas völlig Neues.“ Hadjiat erklärt, sein Ziel erreicht zu haben, wenn der Digital-Health-Hype abebbt und digitale Lösungen und Anwendungen integrale Bestandteile medizinischer Behandlungsstandards sind. „Oder anders ausgedrückt, wenn digitale Gesundheit Normalität ist.“
Susanne Baars: „Personalisierte Therapien sollten für alle Menschen auf dem Planeten verfügbar sein“
Susanne Baars ist Senior Global Thought Leadership Manager bei
Siemens Healthineers in Erlangen und verantwortet als solche den Ausbau der Präzisionsmedizin. Parallel dazu leitet sie ihr im Jahr 2018 gegründetes Start-up
SocialGenomics, das Patientinnen und Patienten unterstützt. Hierzu werden mithilfe KI-gesteuerter Netzwerke Informationen über Erkrankungen und Tumore extrahiert, die wiederum digital mit ähnlichen Erkrankungen verknüpft werden. Auf diese Weise sollen bewährte Praktiken geteilt werden, um geeignete personalisierte Therapien zu finden.
Die personalisierte Medizin ist für Baars eine Herzensangelegenheit: Für sie sind individualisierte Therapien nicht irgendeine Nische oder eine Ergänzung etablierter Behandlungsmethoden. Für sie sind sie schlicht Medizin. Eine Medizin, die schon heute zahlreichen Patientinnen und Patienten hilft und die jenen, bei denen Krebs oder eine seltene Krankheit diagnostiziert wurde, effektivere und schonendere Behandlungsmethoden bieten kann. Was sich für manche wie ein medizinischer Durchbruch anhört, ist für Baars erst der Anfang: „Wir reden hier von einer Revolution“, sagt sie. „Erst die gewaltigen Fortschritte bei den Computerkapazitäten und bei der weltweiten Vernetzung werden die volle Kraft der personalisierten Medizin wirklich freisetzen.“
Präzisionsmedizin heißt: Erkennen von Mustern
Prognostische Bioinformatik und Maschinenlern-Modelle ermöglichen die Sammlung von Millionen von Datenpunkten. Das können Patienten- oder klinische Daten, Labortests, Genomik oder bildgebende Verfahren sein. Das Sammeln dieser Daten sei aber nur ein erster Schritt, sagt Baars: „Daten allein retten kein einziges Leben.“ Erst durch die Analyse der Informationen und das Erkennen von Mustern sowie die Verfügbarmachung praktikabler Einblicke für Mediziner und Patienten unabhängig von ihrem Standort entstehe echter medizinischer Fortschritt. Es gibt nicht „den“ Krebspatienten. Also sollte es auch nicht „die“ Krebstherapie geben.
Ziel von Siemens Healthineers ist es nicht nur, passendere Therapien bereitzustellen, sondern das Gesundheitssystem intelligenter umzugestalten. „Gemeinsam mit Varian, dem führenden Krebstherapieunternehmen, das wir letztes Jahr übernommen haben, setzen wir künstliche Intelligenz ein, um ein umfassendes onkologisches Ökosystem aufzubauen, das Workflows verändert.“ Beispielsweise lässt sich der Weg von der Diagnose zur Therapie von Wochen auf Stunden verkürzen. Für Patienten, Krankenhausbetreiber und die Gesellschaft bedeutet das einen riesigen Unterschied. Aus Baars’ Sicht muss es das Ziel sein, das aktuelle System der „Sick-Care“ zu überwinden und endlich zu einer echten „Health-Care“ zu gelangen, also weg von einer bloßen Krankheits- hin zu einer Gesundheitsversorgung zu kommen. Sie formuliert es so: „Wir haben die Technologien und das Fachwissen, aber wenn die Patienten keinen Zugang zu den Lösungen haben, ist der Zweck nicht erfüllt. Die Daten, die wir im Rahmen der personalisierten medizinischen Versorgung sammeln, werden den Wechsel hin zu Früherkennung ermöglichen und dazu führen, dass die Menschen diese Erkrankungen gar nicht erst entwickeln.“
Bei der personalisierten Medizin geht es nicht nur darum, einige Teile des alten Systems zu verfeinern. Die Vision, die Baars antreibt, ist eine Transformation – lebensrettende Informationen zu organisieren und sie für alle zugänglich zu machen, um so mehr Patienten Zugang zu personalisierten Therapien zu bieten.
Mit Früherkennung und hochpräzisen Diagnosen Gesundheitskosten reduzieren
Aus Sicht von Baars wird der neue Ansatz nicht nur Krankheiten und Leid verringern – er wird auch eine Menge Kosten einsparen. So werde beispielsweise Krebs bei vielen Patientinnen und Patienten heute erst diagnostiziert, wenn er bereits die höchste Stufe – Stufe 4 – erreicht oder bereits gestreut habe. Er sei dann nicht nur schwer zu behandeln, die Behandlung erfordere wahrscheinlich auch mehrere verschiedene Eingriffe, verbunden mit stärkeren Nebenwirkungen für die Patienten. Das bedeutet längere Krankenhausaufenthalte für die Patientinnen und Patienten und höhere Kosten für die Gesundheitssysteme. „Wenn wir Krebs in einem frühen Stadium diagnostizieren, können wir Patientinnen und Patienten tatsächlich heilen, und die Kosten sind viel niedriger.“
Um Patientinnen und Patienten frühzeitig zu erreichen, werden unterstützende Tools wie digitale Zwillinge und disziplinenübergreifende Onkologieplattformen eine immer größere Rolle spielen. Ein digitaler Patientenzwilling bündelt klinische Daten aus völlig verschiedenen Quellen; so entsteht ein virtueller Stellvertreter des Patienten oder der Patientin, mit dessen Hilfe der Mediziner Zeit spart und Simulationen durchführen kann, durch die zukünftige Gesundheitsszenarien offengelegt werden. Erkennt der Algorithmus ein kritisches Muster, schlägt das jeweilige Tool nicht nur Alarm, sondern zeigt dem Nutzer auch augenblicklich, an welche Stelle im Gesundheitssystem er sich für eine Untersuchung wenden muss. „Die Kombination aus digitalem Zwilling, KI und personalisierter Medizin versetzt uns in die Lage, für die Patientinnen und Patienten das bestmögliche Ergebnis zu erzielen“, so Baars. Dies erfolgt anhand der pathologischen und molekularen Besonderheiten der Tumore, Bildgebungscharakteristika, Therapiehistorie und evidenzbasierten Behandlungsoptionen in der Erörterung mit Medizinern und Betreibern. „Die Herausforderung besteht darin, unsere Systeme mit den Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt neu zu entwickeln“, sagt Baars.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis von Baars’ Argumentation. „Ich stelle mir eine Welt mit weltweit vernetzten personalisierten Gesundheitspfaden vor, die alle mit dem Ziel entwickelt wurden, Effizienzen zu heben und Weltklasse-Therapien für den Krebs zu liefern, damit sich die Wirkung da am stärksten entfaltet, wo es am meisten darauf ankommt: beim Patienten oder der Patientin“, sagt sie. Die große Menge an benötigten Daten, die für maßgeschneiderte Therapien notwendig sind, bekomme man bei manchen Krankheiten eben nur durch internationale Zusammenarbeit von Patienten, Medizinern, staatlichen Stellen und der Gesundheitsbranche in einer echten Teamanstrengung durch digitale Lösungen auf internationaler Ebene, ist sie überzeugt. Einfach gesagt: Je mehr Menschen von den präzisen Therapien profitieren, in diese miteinbezogen werden und ihre Daten freigeben, desto besser für alle. Ein starker Anreiz für Länder mit entwickelten Gesundheitssystemen, allen Menschen auf dem Planeten den Zugang zur Präzisionsmedizin zu ermöglichen.
Chancen und Risiken für Unternehmen
Neue Balance für Datenschutz und Innovationsfähigkeit
Dass Gesundheitsdaten und Digitalisierung im Kontext von personalisierter Medizin zukünftig eine deutlich stärkere Rolle spielen werden, haben die Interviews mit den Expertinnen und Experten bestätigt. „Wir empfehlen Pharma- und Medizintechnikunternehmen deshalb, in den Ausbau ihrer Datenstrategie und entsprechende neue Produkte und Services zu investieren“, sagt Hipp. Entwicklungschancen auf dem neuen Markt wird es aber nur geben, wenn zumindest die Weitergabe (teil-) anonymisierter Daten vereinfacht wird. „Ein sicherer Umgang mit Daten, der gleichzeitig Innovationssprünge ermöglicht, ist unerlässlich“, sagt Hipp. Ziel muss es hierbei sein, eine „neue Balance“ zu finden, die Forschung und Innovationen zum Wohl der Menschen ermöglicht und ein Höchstmaß an Sicherheit speziell für personenbezogene Daten gewährleistet. Roman Hipp: „Nicht für jeden und jede mag das ein Argument sein, doch einige innovative Health-Start-ups haben Deutschland bereits den Rücken gekehrt, um in anderen Teilen der Welt Forschung zu betreiben und Innovation im Gesundheitswesen zu fördern.“
Unternehmen müssen sich auf dezentrale Logistik einstellen
Durch die neuen Methoden kommen auf die pharmazeutische Industrie gravierende Veränderungen zu. So werden Medikamente heute in großen Mengen für breite Gruppen von Patientinnen und Patienten produziert. Die Ansätze der Präzisionsmedizin erfordern es hingegen, individuelle Medikamente herzustellen, die Informationen aus der Diagnostik berücksichtigen oder die sogar Patientenzellen in den Herstellungsprozess integrieren. „Diese individuelle und in Teilbereichen sicherlich dezentrale Produktionsweise stellt neue Anforderungen an Logistik und Technik, auf die sich die Unternehmen einstellen müssen“, sagt Hipp. Als Orientierungshilfe bieten sich den Pharmafirmen aus seiner Sicht Konzepte aus der Automobilindustrie an – beispielsweise das „Smart Factory“-Prinzip.
Welche Unternehmen es sein werden, die sich im neuen, personalisierten Gesundheitswesen durchsetzen, steht zu diesem Zeitpunkt keinesfalls fest. Gewinner werden laut Roman Hipp aber in jedem Fall die Patientinnen und Patienten sein: „Sie erwartet eine schnellere und präzisere Diagnostik sowie eine erfolgversprechendere Therapie mit Aussicht auf echte Heilung.“
Das Drei-Phasen-Modell zum Erfolg
Will ein Unternehmen im neuen Markt für personalisierte Medizin erfolgreich sein, muss es Chancen evaluieren, Risiken abschätzen und jeden Schritt strategisch planen. Porsche Consulting hat ein Drei-Phasen-Modell entwickelt, mit dem das möglich ist.