Karaoke elektrisiert Chinas Autofahrer
Fahrzeuge von Volkswagen mit Verbrennungsmotor sind auf dem weltgrößten Automobilmarkt China immer noch Verkaufsschlager. Bei Modellen mit Elektroantrieb will der umsatzstärkste Autohersteller der Welt in China hingegen noch deutlich zulegen. Dafür soll das dritte Joint Venture in der chinesischen Metropole Hefei einen zentralen Beitrag leisten.
09/2022
Dr. Dr. Erwin Gabardi schätzt die Situation schnörkellos ein: „Wenn Volkswagen bei E‑Autos in China nicht eine ähnliche Erfolgsgeschichte gelingt wie bei den Verbrennern, dann hätte das Unternehmen ein Problem – schließlich wird China im Jahr 2025 circa 45 bis 55 Prozent des NEV-Marktes ausmachen. “ Als NEV – New Energy Vehicle – werden in China Autos mit alternativen Antrieben bezeichnet. Dazu zählen batteriebetriebene Elektroautos, Plug-in-Hybride sowie Fahrzeuge mit Brennstoffzellen.
Auch in der Analyse gibt sich der Österreicher Gabardi erfrischend offen: „Man muss in China wissen, was die Kunden speziell bei NEVs wollen und, dass das oft völlig andere Dinge als im Rest der Welt sind, die gar nicht so viel mit Elektromobilität per se zu tun haben. Volkswagen hat bei diesen Themen aktuell noch Aufholbedarf.“
Allerdings macht er nicht den Eindruck, als ob er deswegen schlaflose Nächte hätte. Im Gegenteil. Gabardi sieht vielmehr die Chancen für Volkswagen. Seit Sommer 2021 ist er Chief Executive Officer bei Volkswagen Anhui Automotive Company Ltd. und leitet damit das jüngste VW-Joint Venture für E‑Autos in Hefei in der Provinz Anhui. Die Stadt mit ihren knapp zehn Millionen Einwohnern, 500 Kilometer westlich von Shanghai, beheimatet große Industrien (Automobil, Elektronik, Halbleiter, Biotechnologie und Medizin) und zählt zu den bedeutendsten Universitätsstandorten des Landes. Ende 2020 erhöhte Volkswagen seine Anteile am Joint Venture JAC Volkswagen auf 75 Prozent und übernahm die Managementkontrolle, um im operativen Tagesgeschäft freie Hand zu haben.
Die Position in Hefei gilt innerhalb des Volkswagen-Konzerns als eine Schlüsselposition für das China-Geschäft, da von dort aus der Durchbruch in die E‑Mobilität auf dem weltweit größten Automobilmarkt gelingen soll – oder vielmehr gelingen muss. Gabardi, diesen Eindruck vermittelt er im Gespräch, ist sich der Aufgabe sehr bewusst und nimmt sie nur zu gerne an. Mit Leidenschaft klärt er über die Tücken mancher Ladesäulen auf, erzählt von Spaltmaßen als Qualitätskriterium bei Karosserien und staunt mitunter über chinesische Kundenwünsche wie In-Car-Karaoke, ohne diese allerdings zu belächeln.
Auf dem größten Markt gelten eigene Gesetze
Kundenwünsche zu unterschätzen, kann sich auf dem weltweit wichtigsten Markt für E‑Autos niemand (mehr) leisten. Im Rekordjahr 2021 wurden in China knapp 3 Millionen E‑Autos verkauft, für 2022 rechnet der chinesische Autoverband mit einem Wachstum auf bis zu 5,5 Millionen Einheiten. Doch der Markt ist fest in chinesischer Hand. 2021 fand sich unter den ersten zehn Herstellern kein einziger aus Europa. Als einziger westlicher Autobauer schaffte es lediglich Tesla in die Top Ten.
Den Erfolg der chinesischen Konkurrenz erkennt Gabardi neidlos an. Von der Entwicklung lokaler Anbieter wie BYD, X‑Peng oder Nio ist er fasziniert: „Die chinesischen Wettbewerber sind bei NEVs mittlerweile unglaublich stark. Die Fahrzeuge sind State-of-the-Art hinsichtlich Funktionalität und Design, und sie sind vergleichsweise kostengünstig. Mit den Kollegen in Wolfsburg schauen wir uns die Fahrzeuge sehr genau an und analysieren sie.“
Eine Erkenntnis: Der ingenieurstechnische Vorteil europäischer Verbrenner ist zu einem großen Teil weg. Bei Fahrkomfort und Fahrgefühl sind chinesische E‑Autos gleichauf, „haben aber zusätzlich die für chinesische Kunden maßgeschneiderten Infotainment- und Connectivity-Features“, so Gabardi.
Genau da wird Volkswagen Anhui ansetzen müssen. Chinesische Autos haben zum Beispiel eine Karaoke-Funktion oder bieten Features wie In-Car-Selfies, man kann das Smart Home steuern oder mittels App im Restaurant einen Platz reservieren. „In-Car-Karaoke zum Beispiel braucht bei uns kein Mensch, aber Chinesen finden das cool. Da überzeugt man nicht mehr mit Ingenieurskunst und Spaltmaßen, sondern mit bunten Gimmicks“, betont der Vorstandsvorsitzende.
Dass da Nachholbedarf besteht, erkennt er an. Daher lautet das erste Ziel: aufholen. „Was die Features betrifft, müssen wir zunächst einmal Autos bauen, die mit dem lokalen Wettbewerb mithalten können und gleichzeitig unsere Alleinstellungsmerkmale wie Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit bieten. Perspektivisch müssen wir dann auch neue Dienste und Features definieren“, erklärt Gabardi die nächsten Schritte.
„In China, für China“ lautet die Formel
Gelingen soll das unter dem Motto „In China, für China“. In der Produktion werden bereits rund 90 Prozent der in China verkauften Fahrzeuge in den über 40 lokalen Werken produziert. Nun sollen auch innovative Technologien und digitale Services vor Ort entwickelt werden. Und dabei wird Hefei eine wichtige Rolle spielen.
Daher wurde bereits im Dezember 2020 ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum eingeweiht. Entscheidend wird künftig das Entwicklungstempo sein. Gabardi erklärt: „So eine Karaoke-Funktion hat die chinesische Konkurrenz in zwei, drei Monaten im Auto, wir brauchen dafür derzeit ein Jahr. Das müssen wir künftig ändern, Kundenwünsche müssen schnell ins Auto.“ Dafür ist es auch notwendig, Prozesse zu verschlanken und agiler zu werden. „Wir können nicht mehr jede Detailentscheidung mit der Konzernzentrale in Deutschland besprechen – auch das bedeutet ‚in China für China‘ für mich. Entscheidungen für den chinesischen Markt wollen wir zukünftig hier in China treffen.“
Von der Entwicklung über die Fertigung bis zum Vertrieb – alles an einem Ort
Neben Forschung und Entwicklung werden in Hefei künftig Qualitätssicherung, Simultaneous Engineering sowie Vorserienfertigung vereint und über die gesamte industrielle Wertschöpfungskette hinweg integriert. Zudem soll die neu gegründete Tochter Digital Sales and Services die Wertschöpfungskette hinsichtlich Vertrieb und Marketing sowie digitaler Dienstleistungen komplettieren. Sie soll direkte Kundenschnittstellen über verschiedene Online- und Offline-Kontaktpunkte schaffen und maßgeschneiderte Mobilitätsdienste und Angebote für die Fahrzeugkonnektivität speziell für chinesische Kunden entwickeln.
Die vollständige E‑Auto-Fabrik mit einer maximalen Produktionskapazität von 350.000 Fahrzeugen pro Jahr sei „quasi fertig“, so Gabardi: „Die erste Rohbaukarosserie haben wir schon hergestellt. Im September 2022 sollte das erste tatsächliche Auto für Testzwecke aus der Fabrik fahren und im vierten Quartal 2023 dürften in Hefei die ersten Serienautos vom Band rollen.“
Volkswagen hat im Jahr 2020 rund zwei Milliarden Euro in Hefei investiert, eine Milliarde in das Joint Venture mit JAC und eine Milliarde in den Batteriehersteller Gotion, um den künftigen Bedarf an Batterien für die chinesischen E‑Modelle zu sichern.
Dieses Investitionspaket hat auch dazu beigetragen, dass das Verhältnis zur Lokalregierung überaus gut ist. Gute Beziehungen zur lokalen Regierung, das betont Gabardi, seien einer der Erfolgsgaranten in China. „Wir investieren ja nicht nur in die Unternehmen, sondern damit auch in die Stadt Hefei und sorgen so für Wertschöpfung vor Ort.“ Dass ein deutscher Konzern diese Milliarden-Investitionen 2020 während der corona-bedingten Wirtschaftskrise getätigt hat, „das vergisst man uns nicht“, weiß Gabardi. Daher bestehe ein „sehr guter und extrem kurzer Draht“ zu den entscheidenden Personen und das Verhältnis „ist sehr freundschaftlich“, berichtet der Top-Manager.
So hat, wie es scheint, Volkswagen in einer selbst bei Chinesen nicht übermäßig bekannten Region ideale Bedingungen für seinen E‑Mobilitäts-Hub gefunden. Und wenn man Erwin Gabardi zuhört, hat man den Eindruck, Volkswagen Anhui wechsele gerade auf die linke Spur und setze zum Überholen an.
Kosten im Griff, flexibel im Denken
Als Volkswagen sich entschloss, mit 75 Prozent die Mehrheit und so die Managementkontrolle über das Joint Venture JAC Volkswagen in Hefei zu übernehmen, wurde ein Team der Managementberatung Porsche Consulting um Senior Partner Dr. David Romanowski an Bord geholt, um die Integrationsphase zu betreuen. Bei dieser Post Merger-Integration werden Prozesse und Strukturen vereinheitlicht sowie Geschäftsbereiche organisatorisch zusammengelegt. Im konkreten Fall war es sogar eher eine Unternehmensneugründung, bei der die Berater von Anfang an unterstützt haben. Das Augenmerk lag dabei auf vier Schwerpunkthemen, dem Produktportfolio und den Produkteigenschaften, dem Fabrikaufbau, sowie der Vertriebsvorbereitung und dem Organisationsaufbau.