Einblick

Automatische Wahrsager

Sie verschaffen Zeit und bieten die Grundlage für rechtzeitiges Handeln: Frühwarnsysteme. Mithilfe von Daten gewähren sie Einblick in eine mögliche Zukunft. Doch gerade bei Pandemien stoßen sie an Grenzen.

09/2020

So koordiniert wie auf dieser Kreuzung der deutschen Großstadt Köln geht es nicht immer auf den Straßen zu. Logistik-Frühwarnsysteme helfen, Baustellen und Verkehrschaos zu meiden und die Lieferketten sicherzustellen.Jörg Greuel/Getty Images

Vor­be­rei­tung ist das Schlag­wort effi­zi­en­ten Han­delns. Weiß man um einen Stau, kann man ihn umfah­ren, droht eine Dürre, spart man Was­ser. Coro­na traf die Welt unvor­be­rei­tet. Bis Mitte 2020 star­ben mehr als eine halbe Mil­li­on Men­schen an einer Covid-19-Infek­ti­on. Und die Frage wird laut: Warum gibt es für Pan­de­mien kein funk­tio­nie­ren­des Frühwarnsystem?

In ande­ren Zusam­men­hän­gen sind Früh­warn­sys­te­me schon Stan­dard. Am 26. Dezem­ber 2004 bebte vor der Küste Nord­su­ma­tras der Mee­res­bo­den. Stär­ke 9,3 auf der Rich­ter­ska­la, eines der stärks­ten See­be­ben der ver­gan­ge­nen hun­dert Jahre. Wo der Grund des Oze­ans zit­ter­te, türm­te er Wel­len auf, höher und höher peitsch­ten sie der Insel und vie­len wei­te­ren Küs­ten des Indi­schen Oze­ans ent­ge­gen. Vor­be­rei­tet war nie­mand. Mehr als 250.000 Men­schen star­ben. Ein Kon­sor­ti­um unter Füh­rung des Deut­schen Geo­for­schungs­zen­trums in Pots­dam errich­te­te dar­auf­hin ein Früh­warn­sys­tem im Indi­schen Ozean. Ein Netz von Seis­mo­me­tern ortet Zen­tren von Erd­be­ben, Satel­li­ten ver­mes­sen Bewe­gun­gen der Erd­ober­flä­che via GPS. Würde das Sys­tem jede Erschüt­te­rung berück­sich­ti­gen, gäbe es viele Fehl­alar­me. GPS-Bojen und Druck­sen­so­ren am Ozean­bo­den hel­fen, nach einem Beben jede Welle zu ver­mes­sen. Die Daten wer­den in einem Rechen­zen­trum gesam­melt und mit Auf­zeich­nun­gen ver­gli­chen. Durch diese Infor­ma­ti­ons­fül­le ent­ste­hen Model­le, die bin­nen Minu­ten Aus­kunft geben über Geschwin­dig­keit, Rich­tung und Aus­maß eines mög­li­chen Tsu­na­mis – dar­über, wie harm­los oder gefähr­lich er ist.

Analyse mittels maschinellen Lernens

Früh­warn­sys­te­me hel­fen auch Unter­neh­men. Bei­spiels­wei­se um sich auf Schwie­rig­kei­ten in der Lie­fer­ket­te vor­zu­be­rei­ten. „Resilience360 Sup­p­ly Watch“ heißt das Sys­tem des deut­schen Logis­tik­un­ter­neh­mens DHL. Das Pro­gramm defi­niert rund 140 Kate­go­rien von Risi­ken, etwa finan­zi­el­le, umwelt­be­zo­ge­ne und sozia­le. Berich­ten Medi­en über Kri­mi­na­li­tät in einer Regi­on? Wie oft wer­den Män­gel bean­stan­det? Wie sieht es mit den Bestän­den aus – genug auf Lager? Das DHL-Sys­tem ana­ly­siert Daten aus bis zu 30 Mil­lio­nen Online- und Social-Media-Bei­trä­gen und stellt die Ergeb­nis­se der Risi­ko­be­wer­tung dem Kun­den zur Ver­fü­gung. Wel­che rele­vant sind und wel­che Kon­se­quen­zen dar­aus fol­gen, wird ste­tig neu bewer­tet. Vom Pro­gramm selbst. Dabei hilft soge­nann­tes maschi­nel­les Ler­nen (ML).

ML bedeu­tet gewis­ser­ma­ßen, dass ein Sys­tem selbst­stän­dig neue Infor­ma­tio­nen auf­nimmt und in Bezie­hung setzt zu vor­han­de­nem Wis­sen. Zum Bei­spiel: Ein Pend­ler braucht für eine Stre­cke von A nach B 20 Minu­ten. Auf die­ser Stre­cke gibt es nun eine Bau­stel­le. Weil bereits ande­re Auto­fah­rer war­ten muss­ten, kann eine App dem Pend­ler noch vor dem Los­fah­ren anzei­gen: Für diese Route brauchst du 30 Minu­ten län­ger. Das Sys­tem ana­ly­siert auf diese Weise Tau­sen­de Bau­stel­len. Viel­leicht stellt es auf Grund­la­ge der gesam­mel­ten Daten irgend­wann auch fest: Immer, wenn auf einer Stre­cke mit zwei Spu­ren eine wegen eines Unfalls gesperrt ist, ver­zö­gert sich die Fahrt um etwa 40 Minu­ten. Dann kann die App diese Stö­rung sofort mel­den, ohne auf die Erfah­run­gen ers­ter Auto­fah­rer zu warten.

Wenn wir eine Straße perfekt auslasten, also die maximale Zahl an Autos in einer Stunde eine Strecke befährt, ist das ein instabiles System.

Dirk HelbingDirk Helbing
Professor für Computational Social Science, ETH Zürich

Erst die Vielen sind effektiv

Oft grei­fen Früh­warn­sys­te­me auf Mil­lio­nen oder gar Mil­li­ar­den Daten zu. Je nach The­men­ge­biet kann das alles Mög­li­che sein: geschicht­li­che Auf­zeich­nun­gen, Jah­res­rin­ge von Bäu­men oder ein Twit­ter-Bei­trag. Maschi­nel­les Ler­nen hilft, diese Daten zu ord­nen. Es model­liert, wie Fak­to­ren auf­ein­an­der wirken.

Dirk Hel­bing, Pro­fes­sor für Com­pu­ta­tio­nal Social Sci­ence an der ETH Zürich, forscht, wie die Ana­ly­se gro­ßer Daten­men­gen uns hel­fen kann. Etwa um den Ver­kehr zu ver­bes­sern. Sta­bi­le Sys­te­me seien wich­tig. „Wenn wir eine Stra­ße per­fekt aus­las­ten, also die maxi­ma­le Zahl an Autos in einer Stun­de eine Stre­cke befährt, ist das ein insta­bi­les Sys­tem. Der Ver­kehr bricht zusam­men. Die Stra­ße ver­liert an Kapa­zi­tät. Die Folge ist ein Stau.“ Bes­ser sei es, die Stra­ße kon­stant gut, aber nicht maxi­mal aus­zu­las­ten. Das mache das Sys­tem weni­ger anfäl­lig. „Jede Ein- oder Aus­fahrt, jeder Wech­sel der Fahr­spur, jedes Beschleu­ni­gen oder Brem­sen, sind mög­li­che Stö­run­gen.“ Diese Stör­fak­to­ren las­sen sich mit­hil­fe maschi­nel­len Ler­nens ana­ly­sie­ren und so eine Art kol­lek­ti­ves Fahr­ver­hal­ten ablei­ten. „Nur ein Auto mit einem Pro­gramm aus­zu­stat­ten, bringt nichts“, sagt Hel­bing. Effi­zi­ent werde es im Schwarm, wenn also viele Auto­fah­rer ihr Fahr­ver­hal­ten nach Daten­ana­ly­sen aus­rich­ten. „Mit etwa 40 Pro­zent sol­cher Autos könn­te sich unser Ver­kehr erheb­lich verbessern.“

Ein einzelner Social-Media-Beitrag bringt für eine Prognose nichts. Häufen sich Meldungen über Fieber an einem Ort, kann das aber ein Indiz sein.

Avaré Stewart
Data Scientist

Social Media als Warnmelder

Auf Schwarm­in­tel­li­genz setz­te auch Data Sci­en­tist Dr. Avaré Ste­wart, als sie das Pro­jekt M‑Eco an der Leib­niz-Uni­ver­si­tät Han­no­ver lei­te­te. Daten aus den sozia­len Medi­en soll­ten ihrem Team hel­fen, ein Früh­warn­sys­tem für Pan­de­mien zu ent­wi­ckeln. „Men­schen pos­ten nicht sel­ten über Sym­pto­me wie Fie­ber und Arzt­be­su­che“, sagt Ste­wart. „Ein ein­zel­ner Bei­trag bringt für eine Pro­gno­se nichts. Häu­fen sich Mel­dun­gen über Fie­ber an einem Ort, kann das aber ein Indiz sein.“

Der Vor­teil von Social Media sei die Aktua­li­tät der Daten. Das helfe, einen Aus­bruch früh zu bemer­ken. Zugleich sei die Daten­ba­sis aber schwie­rig. „Die Leute schrei­ben bei­spiels­wei­se über ihren Hund, die Nich­te oder den nächs­ten Urlaub. Dinge, die nicht unbe­dingt etwas mit Erkran­kun­gen zu tun haben. Um die Qua­li­tät der Daten zu erhö­hen, ist es wich­tig zu fil­tern.“ Ist der Fil­ter zu fein, ver­liert man wich­ti­ge Infor­ma­ti­on. Zu grob? Das Sys­tem wird unbrauch­bar. „Hier die Balan­ce fin­den“, sagt Ste­wart, „ist die größ­te Herausforderung.“

Ein wei­te­res Pro­blem: Wann kommt eine War­nung früh genug? „Wir glei­chen die Gegen­wart ab mit Erkennt­nis­sen aus der Ver­gan­gen­heit“, sagt Ste­wart. Das bedeu­tet: „War­nen kön­nen wir erst, wenn etwas pas­siert ist.“ Im Fall von Pan­de­mien, wenn es Infi­zier­te gibt. „Für uns war es zu früh, allein auf Grund­la­ge unse­rer Daten mög­li­che Pan­de­mien vor­aus­zu­sa­gen.“ Auch daher lief das Pro­jekt am Ende der För­de­rung durch EU-Gel­der aus.

Corona-Warn-App: Zu langsam entwickelt?

Auch die deut­sche Coro­na-Warn-App ist ein Früh­warn­sys­tem. Sie ver­mei­det keine Infek­ti­on, hilft aber die Ver­brei­tung ein­zu­däm­men. Seit der Behe­bung von zwi­schen­zeit­lich auf­ge­tre­te­nen grö­ße­ren Pro­ble­men bei die­sem kom­ple­xen Pro­jekt gene­riert die App nun zuver­läs­si­ger alle paar Minu­ten einen neuen Zah­len­code, den sie via Blue­tooth an alle Han­dys der Umge­bung schickt. Anders als in ande­ren Län­dern weiß kein Zen­tral­com­pu­ter, wel­ches Tele­fon mit wel­chen ande­ren Gerä­ten zu tun hatte. Nur das jewei­li­ge Smart­phone spei­chert die Codes – iden­ti­fi­ziert aber kei­nen ande­ren Nut­zer. Goog­le und Apple, die bei­den größ­ten Sys­tem­be­trei­ber für Smart­phones, haben Zugriff auf alle Codes und kön­nen diese den jewei­li­gen Gerä­ten zuord­nen. Mar­kiert sich ein Nut­zer als infi­ziert, wird das an die bei­den IT-Grö­ßen geschickt. Von dort wird eine War­nung an alle Han­dys gesen­det, deren Nut­zer Kon­takt mit der infi­zier­ten Per­son hat­ten bezie­hungs­wei­se sich in ihrer unmit­tel­ba­ren Nähe befanden.

Weil Deutsch­land auf die zen­tra­le Spei­che­rung von Daten ver­zich­tet, keine GPS-Signa­le ver­folgt und Anony­mi­tät garan­tiert, benö­tig­te es mehr Zeit als ande­re Län­der für die Ent­wick­lung – bei­spiels­wei­se China, des­sen IT-Gigant Ali­baba nur drei Tage für die Ent­wick­lung einer App brauch­te. Wie funk­ti­ons­fä­hig die App dort in den ers­ten Wochen wirk­lich war, ist aller­dings umstrit­ten. So spricht eine Stu­die des in Ber­lin ansäs­si­gen Mer­ca­tor-Insti­tuts für Chi­na­stu­di­en von mehr als 50.000 Beschwer­den wegen tech­ni­scher Feh­ler allein in der ers­ten Woche, in der die App im Ein­satz war.

Das lange Rin­gen um den Daten­schutz im Vor­feld der Ein­füh­rung der deut­schen App scheint sich in der Akzep­tanz der Bür­ger bemerk­bar zu machen. Ent­schei­dend für das Funk­tio­nie­ren des von SAP und Tele­kom ent­wi­ckel­ten Sys­tems ist eine mög­lichst brei­te Nut­zung. In der Woche nach ihrer Ver­öf­fent­li­chung wurde die Coro­na-Warn-App von etwa 15 Pro­zent der Deut­schen her­un­ter­ge­la­den. In Öster­reich war eine ähn­li­che Warn-App mehr als einen Monat frü­her erhält­lich. Die dor­ti­ge „Stopp Corona“-App kam drei Mona­te nach ihrem Erschei­nen aller­dings nur auf etwa acht Pro­zent Ver­brei­tung. Öster­reich hat bei sei­ner Warn-App inzwi­schen nach­ge­bes­sert und garan­tiert den glei­chen Daten­schutz wie Deutschland.

Sicherheit versus Geschwindigkeit

In Deutsch­land wird jede Mel­dung geprüft. Wer sich infi­ziert mel­det, muss das bewei­sen. Feh­ler­mel­dun­gen sind so gut wie aus­ge­schlos­sen. Zugleich dau­ert es län­ger, bis eine War­nung ver­schickt wird. Aber mit jeder Minu­te steigt das Risi­ko wei­te­rer Infi­zier­ter. Was geht vor? Sicher­heit oder Geschwin­dig­keit? Die­ses Dilem­ma zeigt sich immer wie­der bei Früh­warn­sys­te­men. Und selbst die bes­ten Sys­te­me kön­nen keine siche­ren Aus­sa­gen über die Zukunft tref­fen, nur mög­li­che Optio­nen auf­zei­gen. Indem sie frühe Wis­sens­grund­la­gen lie­fern, ver­schaf­fen sie Zeit. Damit Men­schen vor­be­rei­tet sind. Und recht­zei­tig han­deln kön­nen, um die Zukunft zu beein­flus­sen. Die Coro­na-App kann war­nen. Aber nur Men­schen kön­nen sich ent­schei­den, Kon­tak­te zu meiden.

ZAHLEN, DATEN, FAKTEN

Frühwarnsysteme in Natur, Wissenschaft und Wirtschaft

  • Elefanten nehmen über Druckrezeptoren in den Fußsohlen Infraschall wahr – etwa 16 bis 20 Hertz unterhalb der Wahrnehmungsgrenze eines Menschen. Das ermöglicht den Tieren, früh auf Erdbeben und Tsunamis zu reagieren.
  • Durch das von Jakarta aus betriebene deutsch-indonesische Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean werden Erdbeben innerhalb von drei bis vier Minuten nach ihrem Aufkommen bis auf 20 Kilometer genau lokalisiert und in ihrer Stärke berechnet.
  • Mit „CoronaVis“ entwickelte die Universität Konstanz ein Frühwarnsystem für die drohende Auslastung für Intensivbetten. So sollen Patienten rechtzeitig verlegt werden – auch über die Grenzen von Landkreisen und Bundesländern hinaus.
  • Für den Ifo-Geschäftsklimaindex für Deutschland befragt das Ifo-Institut monatlich circa 9.000 Unternehmen zu ihrer Geschäftslage und ihren Erwartungen für die nächsten sechs Monate. Anlageberatern gilt der Index als Frühwarnsystem.
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