Tattoo-Transformation
Familienunternehmen mit einem traditionsreichen, erfolgreichen Produkt bleiben sich gern treu. Der Wandel fällt da schwer. Es sei denn, die nächste Generation zeigt viel Mut. Wie bei Edding.
09/2022
Vorstände sollten Vorbilder für ihre Mitarbeitenden sein – möglichst authentisch, plastisch, überzeugend. Doch müssen sie sich deshalb gleich tätowieren lassen? CEO Per Ledermann, Jahrgang 1975, hat es getan, mit eigener Tinte und im Dienst der Transformation. Der Umbruch begann an seinem linken Oberarm.
Aber der Reihe nach: Als die Firma Edding 1960 von zwei Jungunternehmern mit minimalem Startkapital (500 Deutsche Mark – rund 260 Euro) gegründet wurde, war nicht absehbar, dass „Edding“ wenig später zum internationalen Synonym für einen hochwertigen Filzschreiber werden und allein innerhalb der ersten zehn Jahre 100 Millionen Stifte verkaufen würde. Heute sind es insgesamt rund 150 Millionen pro Jahr.
„Permanentmarker“ heißt der Oberbegriff für diese Schreibgeräte mit dem auffälligen breiten Strich heute. Ursprünglich waren sie ein Arbeitsmittel in Lagern, Logistik und Speditionen. Im professionellen Einsatz zum schnellen und deutlichen Beschriften von Paketen. Dann entdeckten Künstler, Schnellzeichner, Werbeagenturen und Privatleute den Stift. Und er durfte jahrzehntelang bei Vorträgen, Seminaren oder Workshops nicht fehlen, wenn zum Beispiel Flipcharts zu beschriften waren. Kurz gesagt: ein weiträumiger Markt mit gesicherter Nachfrage.
Vom Keller bis zur Börse
Die Logistik benötigt weitaus weniger Edding-Marker. Und immer häufiger bleiben die bunt bestückten Moderationskoffer der Veranstalter bei Schulungen zugeklappt. Denn auch hier gilt wie fast überall: Die Zukunft ist digital. Der Trend zur papierlosen Kommunikation macht Schreibgeräte künftig höchstwahrscheinlich entbehrlich. Bereits im Jahr 2020 brach der Büroartikelmarkt um 25 Prozent ein. Der Abwärtstrend setzt sich fort – nicht zuletzt, weil Unternehmen auch aus Nachhaltigkeitsgründen auf Papier und Schreiber verzichten. Deshalb befindet sich die seit 1986 börsennotierte Edding AG mitten in einer großen Transformation. Das Unternehmen muss sich neu erfinden, vielseitiger werden.
Das Weichenstellen begann 2016. Da stellte Per Ledermann sich und seinen Führungskräften die Frage: „Trauen wir uns zu, neue Dinge auszuprobieren?“ Dann beauftragte der Sohn des Edding-Gründers eine junge Masterandin damit, Industrie-Interviews zu führen. Die Studentin, die sich mit disruptiven Technologien auseinandersetzte, sollte klären, wo und wie Unternehmen Edding-Marker nutzen und auf welche Weise sie die Schreiber künftig ersetzen wollen. Schnell wurde die Vorahnung bestätigt, dass die Filzstifte im klassischen gewerblichen oder industriellen Anwendungsbereich kaum noch Zukunft haben. Und die Masterandin hatte Stoff für ihre Doktorarbeit. Arbeitstitel: „Innovationskultur bei Edding“. Ein Volltreffer. Kurze Zeit nach der Promotion machte Ledermann die ehemalige studentische Mitarbeiterin zur Leiterin des neu formierten Corporate Innovation Managements.
Dem Edding-Chef der zweiten Generation ist klar: „Wir stehen vor enormen Veränderungen. Nur für Design Thinking wird man Marker von uns kaum brauchen. Es geht auch nicht mehr nur darum, Farbe auf eine Oberfläche zu bringen.“ Und dennoch sieht Ledermann die jahrzehntelange Erfahrung seines Unternehmens als Wert an sich: „Mit unseren Produkten haben wir Menschen schon immer dabei geholfen, sich auszudrücken – bis hin zur so wichtigen freien Meinungsäußerung.“ Kommunikation kennt viele Kanäle, auch ungewöhnliche. Und so kamen im Jahr 2020 Tattoos als besonders markante Innovation ins Spiel.
Ledermann: „Die Idee hatten wir im Führungskreis schon einmal im Jahr 2009 während einer unserer Strategie-Nächte bei Pizza und Bier entwickelt, jedoch nicht weiterverfolgt.“ Vielleicht kam der spontane Vorschlag damals zu früh. Die Zeit dafür war bei Edding wohl noch nicht reif. Jedenfalls schlummerte der Gedanke gute fünf Jahre. Bis Ledermann ihn nach dem Hinweis eines Freundes wieder aufnahm und damit in der Ahrensburger Firmenzentrale, nordöstlich von Hamburg, für einen kaum überhörbaren Paukenschlag sorgte. Er ging gleich in die Vollen, gab einen „siebenstelligen Betrag“ als Startbudget frei, ließ Farben entwickeln, die den neuesten Richtlinien der Europäischen Union entsprechen, stellte im Jahr 2020 fünf Tätowierer, so genannte „Tattoo Artists“, ein und eröffnete im historischen Chilehaus in Hamburgs feiner Innenstadt das erste eigene Tattoo-Studio. Und: ließ sich erstmals selbst ein Tattoo stechen – was bis dahin in der Familie Ledermann nicht üblich war, außer bei den Neffen des Chefs. „Wenn wir Neues wagen, muss ich es auch selbst ausprobieren“, sagt Ledermann, der sich inzwischen Studioeröffnungen in weiteren Metropolen vorstellen kann.
Ganz ohne Gegenwind blieb das neue Geschäftsmodell – ein etablierter Hersteller wird Dienstleister – allerdings nicht: „Die Tattoo-Szene hat anfangs skeptisch reagiert, weil erstmals ein großes Unternehmen in diesen kleinteiligen Markt eindringt.“ Und auch in der Edding-Belegschaft gab es durchaus Vorbehalte: „Unser traditionelles Orchester war über Jahrzehnte eingespielt, hatte perfekt funktioniert“, sagt Ledermann, „und plötzlich kamen fremde Klänge dazu. Das hat für Unruhe und Kritik in der Firma gesorgt – wie eine wilde Rockband, die den Auftritt der Philharmoniker stört.“
Zwischen Chefsessel und Zebra-Farm
Doch der Sohn des Gründers, den einige langjährige Mitarbeitende seit seiner Kindheit kennen, ging auf die Menschen im Unternehmen zu. Kleine drei- bis vierköpfige Projektteams wurden gegründet und der Chef war persönlich dabei: „Ich habe mich eingebracht, um Brücken zu schaffen – beim Umbau von einer eher hierarchischen zu einer agilen Organisation.“
Ganz so leicht, wie es klingen mag, war die Praxis des Wandels natürlich nicht. Da gibt sich Ledermann sehr offen und selbstkritisch: „Trotz meiner Mitarbeit in den diversen Teams merkte ich: Ich bin immer noch zu wenig sichtbar. Deshalb habe ich Einzelgespräche angesetzt – um von meinen Leuten zu lernen. Aber auch um sie zu überzeugen.“ Die Mitarbeitenden merkten, wie ernst dem Chef die Transformation ist. Und er erkannte zugleich: „Wir hatten uns zu viele Innovationsthemen aufgeladen. Es gab zu großen Abstand zwischen Führung und Team. Manchmal wollte ich mit dem Kopf durch die Wand. Oder ich bin Konflikten auch mal aus dem Weg gegangen.“
Gute Kommunikation kann einen wichtigen Beitrag zu erfolgreicher Transformation leisten. Eine Mitarbeiterin erfand die Strategy Spirits – abendliche, entspannte Treffen bei einem Glas Wein. Die Runden abseits der Agenda erleichterten es, den neuen Weg zu finden und alle mitzunehmen. Natürlich, mit Tattoo-Farben allein könnte das Unternehmen weder leben noch wachsen. Aber Edding bleibt den Farben treu, nur anders. Inzwischen gehört sogar Nagellack zum Portfolio. Große Drogeriemarktketten sind primär die Abnehmer.
Neben reiner Kosmetik zielt Edding weiter auf die langjährige Kundschaft aus Wirtschaft und Industrie. Diesmal jedoch sind die Offerten für professionelle Anwendungen digital: Der „Edding Code“ ist eine Technologie, die leitfähige digitale Tinte einsetzt. Damit können Fälschungen von Dokumenten wie Führerscheinen aufgedeckt oder die Echtheit von Markenprodukten elektronisch überprüft werden. Für solche Innovationen nutzen die Norddeutschen die enge Zusammenarbeit mit Start-ups, die sie immer wieder zum Austausch und in wechselnder Besetzung in die Firmenzentrale einladen.
Eines dieser jungen Unternehmen ist Prismade, der Erfinder der digitalen Tinte. 2018 hat Edding den Newcomer zu 50 Prozent übernommen. Und für die Entwicklung und den internationalen Vertrieb innovativer digitaler Technologien wurde in München eine Business Unit, die Industrial Tech Solutions, gegründet. Zu deren Portfolio gehört auch der „Edding Compact Printer“ – ein kleiner, in Deutschland hergestellter Drucker für Kennzeichnungen in industriellen Produktionsprozessen. Ledermann: „Das ist sozusagen der klassische Edding in einer digitalen und voll konnektiven 4.0‑Version.“ Womit der Marker-Spezialist fast wieder bei seinen Wurzeln wäre. Doch das ist nicht das Ende der Transformation eines weltbekannten Schreibwarenherstellers. Ledermann, der im Urlaub mit seiner Familie ein Wildreservat in Namibia als Naturschutzgebiet hegt und pflegt, weiß: „In vielerlei Hinsicht sind wir noch mittendrin im Veränderungsprozess.“
Was sich allerdings nicht ändern darf, ist die Identifikation mit der Firmengeschichte. Und so zieht Ledermann, ganz Familienunternehmer, zum Abschied ein Erbstück, den schwarzen Marker „Edding Nr. 1“, aus der Hosentasche, dreht mit zwei Fingern blitzschnell die Flügelkappe ab und schreibt den Firmennamen auf ein Stück Papier. Der Stift ist ein Original, sechs Jahrzehnte alt und funktioniert noch immer. „Schon unser erster Marker war nachfüllbar“, sagt der Chef, der den Firmennamen traditionell klein- und Nachhaltigkeit großschreibt.