Der virtuelle Patient
Das Metaverse kommt. Der digitale Raum verknüpft virtuelle und physische Welten. So können Menschen virtuell zusammenkommen, interagieren und sich dabei so fühlen, als wären sie alle am selben Ort. Viele Gesundheitsdienstleister haben die Möglichkeiten für sich entdeckt und erwirtschaften hier bereits hohe Umsätze. Das Porsche Consulting Magazin hat mit drei Expertinnen und Experten über die Chancen und Risiken im neuen Healthcare Metaverse gesprochen.
03/2023
Als derjenige, der den Begriff „Metaverse“ geprägt hat, gilt der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson. In seinem 1992 erschienenen Roman „Snow Crash“ lässt er seine Protagonisten nicht nur Abenteuer in der analogen Welt, sondern als Avatare auch in der digitalen Sphäre des Metaverse erleben. Dass sich Denker und Lenker von Science-Fiction-Autoren beeinflussen lassen, ist keinesfalls ungewöhnlich. Und warum auch nicht? „Alles, was in diesem Moment noch Fiktion ist, ist im nächsten bereits Realität“, sagt Dr. Martha Böckenfeld, Dekanin und Partnerin der Zürcher Metaverse Academy, im Interview mit dem Porsche Consulting Magazin.
Doch welche Form wird das Healthcare Metaverse der Zukunft annehmen? Organisiert es sich als „digitales Dorf“, wie es Adam Gründer, Advisor bei der BPV Group, formuliert? Wird es also lediglich eine Plattform geben, auf der alle medizinischen Anbieter vertreten sein werden? Und auf der Patientinnen und Patienten für alle ihre gesundheitlichen Anliegen Lösungen und Ansprechpartner finden werden?
Mindestens zehn Jahre wird es aus Gründers Sicht dauern, bis ein solches Szenario Realität werden könnte – und das dürfte eher die optimistische Schätzung sein. Bleibt die Frage, wer diese Plattform später kontrolliert. „Aus Sicht deutscher Verbraucher sind sensible Gesundheitsdaten sicherlich auf Servern in ihrem eigenen Land besser aufgehoben als bei einem internationalen Technologie-Unternehmen“, gibt Gründer zu bedenken. Ähnlich könnten auch die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder argumentieren, die über einen sichereren und dabei vielleicht sogar technologiefreundlicheren Datenschutz als Deutschland verfügen. Also doch keine internationale Lösung für die umfassende Plattform? Aus Böckenfelds Perspektive spricht nach wie vor nichts dagegen, es sollte nur statt eines Unternehmens eine neutrale, internationale Organisation mit der Kontrolle der Datenplattform beauftragt werden.
Für Josef Bartl ist Datenschutz von zentraler Bedeutung, die Diskussion über die Kontrollinstanz einer solchen Plattform hingegen verfrüht: Der Vice President Corporate Strategy und M&A bei Brainlab ist der Meinung, dass „eine umfassende virtuelle Parallelwelt im Gesundheitsbereich“ in absehbarer Zukunft schlichtweg keinen Sinn macht. Seiner Meinung nach definiert sich das Healthcare Metaverse eben nicht über den großen, gemeinsamen Rahmen, sondern als Unterstützung bei konkreten Problemstellungen durch die Verschmelzung der analogen Welt mit Daten. „Aus diesem Prozess resultieren dann neue Möglichkeiten“, sagt Bartl, „neue Möglichkeiten, Informationen zu konsumieren, mit Datenmodellen zu interagieren und mit anderen Personen datengestützt zu kollaborieren.“
Die Kompetenz kommt zum Patienten – weltweit
Es sind solche Möglichkeiten, so Alexander Nathaus, Partner Life Science bei der Managementberatung Porsche Consulting, die deutlicher herausgearbeitet werden müssen, um dem Healthcare Metaverse zum finalen Durchbruch zu verhelfen. „Nur wenn Patientinnen und Patienten die konkreten Vorteile verstehen, die ihnen die neue, digitale Healthcare-Welt bietet, wird das Metaverse sein volles Potenzial entfalten können.“
Dass reichlich Potenzial vorhanden ist – daran lässt der Managementberater keinen Zweifel. „Nicht zuletzt die sprunghafte Zunahme der Telemedizin seit der Corona-Krise hat gezeigt, dass Arztbesuche nicht ausschließlich in der analogen Welt stattfinden müssen“, sagt Nathaus. Oft ist es zudem nicht nur bequemer, sich medizinischen Rat in virtuellen Räumen einzuholen. „Es kann auch sinnvoller sein, etwa wenn Expertinnen und Experten mit relevanter Kompetenz für ein spezifisches Gesundheitsthema nicht vor Ort verfügbar sind.“ So können Therapien von internationalen Medizinern gesteuert und dann von lokalen Partnerkliniken umgesetzt werden.
Nathaus zeigt eine ganze Bandbreite von Anwendungen auf, die bereits heute den medizinischen Alltag im Metaverse strukturieren. Dazu gehören unter anderem internationale Kooperationen von Medizinerinnen und Medizinern, optimierte OP-Vorbereitungen sowie Schulungen und Patientengespräche anhand digitaler Zwillinge. „Da vor allem die jüngeren Generationen im Umgang mit dem Metaverse vertraut sind, wird der virtuelle Raum auch bei medizinischen Themen zunehmend an Bedeutung gewinnen.“
Investments ins Healthcare Metaverse sollten gleichwohl sorgfältig abgewogen werden. „Unternehmen, die hier erfolgreich sein wollen, evaluieren zuallererst systematisch ihre Chancen, schätzen ihre spezifischen Risiken ab und planen anschließend strategisch Schritt für Schritt“, sagt Nathaus. Bei der anfänglichen Analyse gelte es insbesondere zwei Fragen zu klären: Können die eigenen Produkte und Dienstleistungen einen Zusatznutzen in der digitalen Gesundheitssphäre bringen? Und: Welche Voraussetzungen müssen – alleine oder mit Partnern – geschaffen werden, um das eigene Geschäftsmodell in diesen neuen Kanal hineinzuentwickeln?
Gelingt es den Unternehmen, sinnvolle Lösungen im Healthcare Metaverse zu installieren, profitieren am Ende nicht nur sie selbst, sondern – wie so oft im Gesundheitswesen – auch die Patientinnen und Patienten.
Adam Gründer: „Bis zu einer gemeinsamen Plattform wird es noch zehn Jahre dauern“
Adam Gründer ist seit November 2022 Advisor der BPV Group und verantwortet dort das internationale Geschäft. Das Unternehmen mit Hauptsitz in der westdeutschen Kreisstadt Unna hat sich auf die Ausrüstung mobiler Arbeitsplätze spezialisiert und bietet unter anderem Lösungen im Bereich Virtual und Augmented Reality an. Gleichzeitig ist Adam Gründer CEO der Agentur 10xD, die Veranstaltungen und andere Formate im Healthcare-Sektor entwickelt. Vor seiner Tätigkeit bei BPV war Gründer Lead Innovation Manager bei T‑Systems mit den Schwerpunkten Metaverse, Cloud und IT-Lösungen im Gesundheitswesen. Das Interview für diesen Beitrag führte Gründer noch in seiner Funktion bei T‑Systems.
Gerade diese Offenheit macht Gründers Vorstellung zu einer durchaus kühnen Vision, denn aktuell besteht das Healthcare Metaverse eher aus einem Sammelsurium von Apps einzelner Anbieter, die nicht miteinander vernetzt sind. „Es wird deshalb noch mindestens zehn Jahre dauern, bis wir eine gemeinsame Plattform sehen werden“, schätzt Gründer. Bis es so weit ist, lassen sich aber auch in der aktuellen Welt der Paralleluniversen erfolgreiche Geschäfte machen.
Neue Chancen im Gesundheitswesen
Gemeinsam mit dem deutschen 3D-Spezialisten Doob, der bei T‑Systems das Accelerator-Programm durchlaufen hat, haben Gründer und seine Kolleginnen und Kollegen bereits zahlreiche Metaversen für Unternehmen aus dem Gesundheitswesen gebaut. „Für unsere Kunden schaffen wir begehbare Räume, die entweder komplett neu sind oder die eine Art Nachbau von Kliniken oder Büros in der virtuellen Welt darstellen.“ Betreten können die Nutzer diesen digitalen Bereich natürlich nur mit ihrem individuellen Avatar. Um einen solchen zu bekommen, machen sie vorab einen Scan ihres Gesichts und setzen diesen im Anschluss auf einen der zur Auswahl stehenden Körper auf. Wer keinen Körper von der digitalen Stange will, kann aber auch den Full-Body-Scanner von Doob nutzen und sich damit komplett einlesen lassen. Der Scanner hat in etwa die Größe einer Telefonzelle und erstellt in rund 30 Sekunden einen digitalen Zwilling, verspricht Gründer. Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft hat den Doob-Scanner schon für ihre Zwecke genutzt.
Im Tagesgeschäft sind es aber eher Gesundheitsexperten, die sich von Doob digital vermessen lassen. Zuletzt Beraterinnen und Berater der Barmer Ersatzkasse, einer großen deutschen Krankenversicherung, für die T‑Systems und Doob virtuelle Verkaufsräume gestaltet haben. „Viele Krankenkassen verlieren allmählich den Kontakt zur jungen Generation mit einem Alter von bis etwa 25 Jahren“, skizziert Gründer das Problem der Anbieter. Zurückgewinnen will Barmer diese Menschen jetzt durch die Dependance im Metaverse. „Das macht die Barmer unterscheidbar und bietet potenziellen jungen Kunden eine interessante und ansprechende Alternative zum herkömmlichen Beratungsgespräch.“
Aber auch Rollstühle waren schon im Doob-Scanner. „Wer einen Rollstuhl benötigt, hat gewöhnlich eine Odyssee von Anbieter zu Anbieter vor sich“, erklärt Gründer. „Jetzt können Betroffene und Berater ihren Avatar erstellen und treffen sich in einem virtuellen Showroom, um gemeinsam das geeignete Modell auszuwählen.“ Doch es lassen sich noch ganz andere „Räume“ in die virtuelle Sphäre übertragen. So haben Gründer und seine Kolleginnen und Kollegen einen kompletten Magnetresonanztomographen (MRT) als bildgebendes Verfahren in die 3D-Welt des Metaverse überführt. Ziel der kooperierenden UME, der Universitätsmedizin in der westdeutschen Stadt Essen, war es, die eigenen Mitarbeitenden zu schulen. „Da das Klinikpersonal durch das virtuelle MRT nicht mehr das teure Hightechgerät für die notwendigen Fortbildungen blockieren muss, rechnet sich so eine Maßnahme bereits nach einer Woche“, sagt Gründer. Ohnehin sieht er Schulungen und Fortbildungen für Ärzte und medizinische Hilfskräfte als zentrale Themenfelder, die mit Blick auf Kosten und Anwendernutzen ins Metaverse verlagert werden können.
Weiter Weg bis ins Metadorf
Einzelanwendungen wie diese sind es, die für Gründer das aktuelle Healthcare Metaverse bilden. Um daraus das gemeinsame und für jeden zugängliche Metadorf seiner Zukunftsvision zu gestalten, müsse zunächst die Politik die Voraussetzungen schaffen. „Wenn eine solche Plattform in Europa entstehen soll, brauchen die potenziellen Anbieter aber mehr Zugriffsrechte auf Gesundheitsdaten“, erklärt Gründer. Entstünde eine entsprechende Plattform in Deutschland, könnte sie dort mit einem Vertrauensbonus bei den Patienten rechnen. „Aus Sicht deutscher Verbraucher sind sensible Gesundheitsdaten sicherlich auf Servern in ihrem eigenen Land besser aufgehoben als bei einem internationalen Technologie-Unternehmen.“
Doch nicht nur die Politik ist am Zug, um dem Metaverse zum Durchbruch zu verhelfen: „Das größte Problem sehe ich aktuell bei Patientinnen und Patienten“, sagt Gründer. Tatsächlich werden die wenigsten unter ihnen ans Metaverse denken, wenn sie gesundheitliche Beschwerden haben oder medizinischen Rat suchen. Manch einer oder eine dürfte sich zudem fragen, warum man ins Internet gehen soll, wenn man doch ganz real den Blinddarm entfernen will. „Wir müssen deshalb noch viel öfter erklären, was das Metaverse eigentlich ist und welche Vorteile jede und jeder Einzelne hat, wenn sie oder er es nutzt“, fordert Gründer.
Mit Brille ins virtuelle Sprechzimmer
Nicht zuletzt stellt aus Gründers Sicht auch die technische Ausstattung ein Hindernis für breitere Nutzerschichten dar. Die aktuellen Geräte sind teuer, nicht immer einfach zu nutzen und in einigen Ländern schlicht nicht verfügbar. Vor allem im geschäftlichen Umfeld sieht Gründer dabei hohes Potenzial im Einsatz der Virtual-Reality-Brillen – in erster Linie, wenn es um Online-Veranstaltungen und ‑Schulungen geht. Tatsächlich sind einige Unternehmen, wie nicht zuletzt die BPV Group, bereits auf den Zug aufgesprungen und steuern den kompletten Einstellungsprozess sowie das gesamte Lifecycle-Management über Virtual- oder Augmented-Reality-Brillen.
Letztlich werde sich das Problem mit den Brillen aber nach und nach von selbst lösen, ist sich Gründer sicher. So werde sich das Nadelöhr der Verfügbarkeit auf Dauer weiten und der Markt genügend Zubehör zur Verfügung stellen. „Wer die Geräte erst einmal privat – und sei es nur für Computerspiele – nutzt, der will die Brille später auch mit ins Büro und ins virtuelle Sprechzimmer im Healthcare Metaverse nehmen.“
Martha Böckenfeld: „Internationale Organisation sollte Plattform für alle schaffen“
Dr. Martha Böckenfeld ist Metaverse Evangelista, Dekanin und Partnerin der Metaverse Academy in Zürich (Schweiz) und lehrt zudem in den Bereichen Innovationsmanagement, digitale Transformation, Web3 sowie Blockchain-Technologie. Parallel dazu engagiert sie sich in verschiedenen Netzwerken für die Karrierechancen von Frauen und gehört zu den Top 100 Women of the Future und World’s Top 200 Business & Technology Innovators. Böckenfeld blickt auf eine 20-jährige Karriere in der internationalen Finanzindustrie zurück und war unter anderem Vorstandsmitglied der Winterthur Gruppe, CEO bei Kleinwort Benson, Aufsichtsratsmitglied bei Unicredit und Vorstandsmitglied der UBS Schweiz für digitale Plattformen und Marktplätze.
Science-Fiction wird Realität
Mittlerweile weiß sie mehr über das „Healthverse“, wie sie es nennt. Dazu gehört auch, dass ein umfassendes Healthverse aktuell noch ferne Vision sei. „Aber alles, was in diesem Moment noch Fiktion ist, ist im nächsten bereits Realität“, ist sich Böckenfeld sicher und fügt hinzu: „Technologie entwickelt sich heute exponentiell.“ Tatsächlich ist dank Virtual-Reality-Technologie mittlerweile vieles möglich, was man vor einigen Jahren noch als Science-Fiction abgetan hätte. So gelang es brasilianischen Chirurgen erst im August 2022 in einer komplizierten, 27-stündigen Operation, erfolgreich ein siamesisches Zwillingspaar zu trennen. Zuvor hatten Experten mit CT- und MRT-Scans virtuelle Abbilder der Zwillinge angefertigt; mit VR-Brillen konnten die Chirurgen den seltenen Eingriff so über Monate hinweg realitätsgetreu üben. Hierbei wurden sie von zahlreichen internationalen Expertinnen und Experten unterstützt, die sich von überall in der Welt in den gleichen virtuellen Raum zuschalten ließen. Noor ul Owase Jeelani, einer der Chirurgen, war so erstaunt von der VR-Technik, dass er sie im Anschluss an die Operation gegenüber der BBC als „Man-on-Mars-Zeug“ bezeichnete.
Verbinden statt separieren
Beispiele wie dieses belegen das Potenzial, das die virtuelle Welt gerade im Gesundheitsbereich bietet. Sie lässt die Grenzen von Zeit und Raum verschwinden, bringt Fachleute weltweit zusammen, um gemeinsam Lösungen zum Wohle von Patientinnen und Patienten zu entwickeln – all das ist schon heute Realität. Und dennoch kritisiert Böckenfeld, dass das aktuelle Healthverse in erster Linie aus einer Vielzahl separater Anwendungen besteht, die nicht miteinander verbunden sind. „Was fehlt, ist die Interoperabilität, das ganze Health-Care-Ecosystem ist nicht miteinander verwoben.“
Zwar würden internationale Technologieunternehmen liebend gerne eine Plattform zur Verfügung stellen, die alle Anwendungen und Virtual-Reality-Lösungen in sich vereint. Doch aus Böckenfelds Sicht wäre das nur die zweitbeste Lösung. „Besser wäre es, eine unabhängige, globale Organisation damit zu betrauen, die digitale Infrastruktur des Healthverse allen Playern zur Verfügung zu stellen.“ Auch wenn das nicht alle Probleme löse, die sich einem umfassenden Healthcare Metaverse entgegenstellen.
Datenqualität bestimmt den Mehrwert
Wie viele innovative Projekte im Gesundheitssektor wäre auch das globale Healthverse stark datengetrieben. „Das ist ein Problem, denn in jedem Land gibt es andere Regularien beim Umgang mit Daten.“ Damit nicht genug: Die Daten einer jeden Patientin, eines jeden Patienten sind heute in der Regel an den unterschiedlichsten Orten verteilt – sie liegen bei diversen Ärzten, in Kliniken, auf Smartphones und anderen Wearables. „In Zukunft muss sich aber jeder Nutzer als Eigentümer seiner Daten verstehen und diese an einem Ort bündeln“, fordert Böckenfeld.
Ein solcher Ort könnte ein „digitales Wallet“ sein, sagt Böckenfeld. Die dort gesammelten Daten reflektieren jeweils den kompletten Lebenszyklus ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin. Sie stellen so den Kern dessen dar, was Böckenfeld als „digitale Identität“ bezeichnet. „Mit dieser Identität lässt sich beispielsweise ein digitaler Zwilling erstellen, mit dem sich abschätzen lässt, was einem in einer konkreten Situation guttut und was eher nicht.“ Auch der Eintritt des eigenen Avatars ins globale Healthverse macht erst mit diesen Daten richtig Sinn. Denn es sind nicht zuletzt Daten, die Gesundheitsanwendungen brauchen, um einen Mehrwert für Patientinnen und Patienten zu schaffen.
Josef Bartl: „Das Metaverse ist bereits in der klinischen Praxis angekommen“
Josef Bartl leitet den Bereich Corporate Strategy und M&A bei Brainlab, einem führenden Anbieter von digitaler Medizintechnologie mit Sitz in der süddeutschen Metropole München. Bartl verantwortet in seiner Position strategische Projekte und Transaktionen, die die führende Rolle von Brainlab im Bereich der datengetriebenen Medizin weiter ausbauen. So übernahm Brainlab im Jahr 2020 unter seiner Federführung den Videospielspezialisten Level Ex mit Sitz in Chicago und konnte sein Portfolio im Bereich der medizinischen Fortbildung damit deutlich stärken. Vor seiner Zeit bei Brainlab war Josef Bartl im Bereich M&A Advisory tätig. Er hat VWL an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) studiert.
Bartl weist darauf hin, dass der Begriff „Metaverse“ durchaus vielschichtige Bedeutungen hat. Er selbst versteht darunter in erster Linie die Verschmelzung der realen Welt mit Daten. „Aus diesem Prozess resultieren dann neue Möglichkeiten“, sagt Bartl, „neue Möglichkeiten, Daten eindrucksvoll zu veranschaulichen, mit den Darstellungen der Daten zu interagieren und diese Darstellungen als Basis zur Kollaboration und Entscheidungsfindung zu nutzen.“ Bei der Bedeutung, die Bartl den Daten im Metaverse zuspricht, wundert es nicht, dass er sich vor allem mehr davon wünscht: „Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser sind die Apps, die wir entwickeln können.“ Und je mehr Daten die Patienten und Patientinnen zu einer Behandlung mitbringen, desto besser können diese Apps eingesetzt werden. Im Grunde, so Bartl, sei das Metaverse „ein Raum, den es mit Daten zu füllen gilt“.
Bartl stellt seiner engen Definition des Metaverse aber auch eine breitere gegenüber: die Vision einer umfassenden, digitalen Parallelwelt. Allerdings verfangen diese Vorstellungen laut Bartl vornehmlich im Entertainmentbereich. Dort also, wo es um Fragen geht wie: Kann ich virtuell Konzerte besuchen? Oder kann ich virtuell verreisen? Hier stehe das gemeinsame Erleben in einem virtuellen Raum im Vordergrund. Im Gesundheitskontext mache die Vorstellung eines umfassenden Metaverse hingegen keinen Sinn. „In einer Welt mit spezifischen gesundheitlichen Problemstellungen muss eine Metaverse-Applikation stattdessen gezielt auf eine Erkrankung beziehungsweise eine Behandlungsmethode ausgerichtet sein“, sagt Bartl. „Ich glaube auch nicht, dass sich das in der absehbaren Zukunft ändern wird.“
Patienten und ihre Modelle
Dass sich im Rahmen der engen Metaverse-Definition bereits erfolgreiche Geschäfte machen lassen, hat Brainlab durch zahlreiche Apps bereits gezeigt. Die Münchner haben sich dabei vor allem auf Technologien spezialisiert, die Arbeiten rund um den OP verbessern sollen. Ein Beispiel ist der „Virtual Technical Guide“ von Level Ex, einem Tochterunternehmen von Brainlab. Die Anwendung liefert ein dreidimensionales, interaktives Modell des Menschen, der behandelt wird. Da sie gleichzeitig die Instrumente anzeigt, die bei einer Operation eingesetzt werden können, hilft sie Medizinerinnen und Medizinern, sich gezielt auf einen Eingriff vorzubereiten. In naher Zukunft soll die Technologie auch während der Operation eingesetzt werden und so den jeweils nächsten chirurgischen Schritt im 3D-Modell visualisieren. Doch machen diese Eigenschaften die Applikation tatsächlich zu einer Metaverse-App? Laut Bartl ist das keine Frage. „Die Anwender interagieren in Echtzeit mit dem 3D-Modell, außerdem lassen sich via App weitere externe Fachleute parallel hinzuschalten.“ Interaktion und Kollaboration also – da sind sie wieder, Bartls Definitionskriterien für das Metaverse.
Auch im weiteren Vorfeld einer Operation können Applikationen aus dem Metaverse hilfreich sein, zum Beispiel in der Radiologie. So entwickelt Brainlab aus MRT- oder CT-Scans 3D-Modelle der Anatomie. Ausgestattet mit Augmented-Reality-Brillen kann die Ärztin oder der Arzt der betroffenen Person anhand des Hologramms anschaulich und realitätsnah erklären, wie die Operation ablaufen wird. „Das tiefere Verständnis vermindert die Unsicherheit bei den Betroffenen. Es schafft Akzeptanz und erzeugt Vertrauen in die jeweilige ärztlich empfohlene Vorgehensweise“, erklärt Bartl den Vorteil für alle Beteiligten.
Das einmal erstellte 3D-Modell kann später auch während der Operation eingesetzt werden. In die Okulare der OP-Mikroskope werden kritische Strukturen wie Nervenbahnen eingeblendet, auf die es bei der Operation zu achten gilt. Das Verfahren hat allerdings nichts mit dem Metaverse zu tun, sondern ist bereits seit der Jahrtausendwende etabliert. Laut Bartl wird es von einer vierstelligen Zahl an Kunden genutzt. Aktuell arbeitet Brainlab an einer Möglichkeit, die es erlaubt, das anatomische Hologramm komplett in den Operationssaal mitzunehmen – bestenfalls angereichert mit weiteren nützlichen Daten.
An die Hochschulen denken
Trotz der umfassenden Darstellungsweise der 3D-Modelle und der Möglichkeit, mit ihnen zu interagieren – nicht alle Fachleute sind solchen Lösungen gegenüber aufgeschlossen. „Viele Ärztinnen und Ärzte arbeiten weiterhin mit 2D-Schnittbildern und treffen auf dieser Basis ihre Entscheidungen“, sagt Bartl. Ein echter Durchbruch für das Metaverse, wie es Brainlab definiert, wäre es deshalb, wenn das 3D-Verständnis schon in die klinische Ausbildung integriert würde. „Das ist aktuell leider nur selten der Fall, meistens kommen angehende Medizinerinnen und Mediziner erst sehr spät während ihrer klinischen Praxis mit dreidimensionalen Darstellungen von Patienten-Bilddaten in Kontakt, häufig durch unsere Applikationen.“
Bartl hofft, dass sich das bald ändert und die Anwendungen des Metaverse in naher Zukunft auch die medizinische Ausbildung bestimmen. Aus seiner Sicht würde eine entsprechende Integration nicht nur zu einer Verbesserung, sondern auch zu einer Demokratisierung der universitären Ausbildung führen. „Entsprechendes Fachwissen wird nicht mehr nur für Studierende an speziellen und möglicherweise teuren Universitäten, sondern durch Metaverse-Apps überall zur Verfügung stehen.“ Eine Vision, die die Heilungschancen vieler Betroffener verbessern würde – ganz ohne die umfassende Plattform für alle.
So verbessert das Metaverse die Behandlung
- Kompetenzen bündeln: Medizinisches Personal auf der ganzen Welt kann sich in digitalen Räumen austauschen und sich virtuell bei Operationen gegenseitig unterstützen.
- Operationsvorbereitung: Durch Hologramme der Patientenanatomie hat das Klinikpersonal die Möglichkeit, sich gezielt und am konkreten Fall auf einen Eingriff vorzubereiten.
- Operationsbegleitung: Mit Augmented-Reality-Brillen erhalten Chirurgen wichtige Zusatzinformationen und auf Wunsch Schritt-für-Schritt-Hinweise zum anstehenden Eingriff.
- Fortbildung: Durch den Einsatz digitaler Zwillinge etwa von CT- oder MRT-Geräten kann praxisnah geschult werden, ohne die teuren und oft ausgebuchten radiologischen Anlagen dabei zu blockieren. Auch über Metaverse-Apps finden bereits virtuelle Schulungen statt.
- Patientengespräch: Mit Virtual-Reality-Brillen und 3D-Modellen kann medizinisches Personal den Patientinnen und Patienten Krankheitsbilder und einzuleitende Maßnahmen besser veranschaulichen.
- Neue Therapien: Durch das Sammeln von Daten etwa von Smartwatches oder Wearables können ganz neue Therapien entwickelt werden. Ob und wo das gelingt, hängt nicht zuletzt von Restriktionen durch die Datenschutzgesetze des jeweiligen Landes ab.
- Ansprache verbessern: Mit einer Metaverse-Präsenz und Avataren lassen sich vor allem jüngere Zielgruppen besser ansprechen und für eine fortschrittliche Behandlung gewinnen, weil digitale Lösungen ihrer Lebenswirklichkeit mehr entsprechen.
- Fernüberwachung: Medizinisches Personal kann den Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten durch Metaverse-Apps kontinuierlich überwachen – auch, wenn diese in abgelegenen oder unterversorgten Gebieten leben.
- Virtual-Reality-Therapie: Individuelle Therapiesitzungen im virtuellen Raum kommen bereits bei psychischen Erkrankungen, etwa bei Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen, zum Einsatz.