Mobilität

Das Rad
neu erfinden

Die Entstehung von Produkten wandelt sich grundlegend. Unternehmen müssen die steigende Komplexität beherrschbar machen und etablierte Entwicklungsgrundsätze strategisch neu denken. Mit dem Fokus auf systemische Prozesse lassen sich derzeit schon Automobile effizienter entwickeln, umsetzen und schneller auf den Markt bringen. Das Prinzip ist jedoch universell – und daher auch auf andere Industrien anwendbar.

06/2022

Vom Fahrzeughersteller zum Anbieter umfassender Mobilitätskonzepte: E-Mobilität, autonomes Fahren, Digitalisierung und Konnektivität erfordern eine Transformation der gesamten Produktentstehung. Kurzum: Automobilkonzerne müssen „das Rad neu erfinden“.Porsche Consulting/Thomas Kuhlenbeck

Die viel­leicht größ­te Trans­for­ma­ti­on ihrer Geschich­te voll­zieht sich aktu­ell bei den gro­ßen Auto­mo­bil­kon­zer­nen. Frü­her als reine Fahr­zeug­her­stel­ler aner­kannt und von ihren Fans für ihre indi­vi­du­el­len Vor­zü­ge geliebt, ent­wi­ckeln sie sich wei­ter zu Anbie­tern umfas­sen­der Mobi­li­täts­kon­zep­te. The­men wie E‑Mobilität, auto­no­mes Fah­ren, Digi­ta­li­sie­rung und Kon­nek­ti­vi­tät las­sen um sie herum neue Märk­te ent­ste­hen. So wie nie zuvor über­den­ken die Fahr­zeug­her­stel­ler des­halb die gesam­te Pro­dukt­ent­ste­hung. Das Ziel: nichts gerin­ge­res als „das Rad neu zu erfinden“.

Damit diese gigan­ti­sche Trans­for­ma­ti­on gelingt, braucht es einen Kul­tur­wan­del: Alte Silos müs­sen auf­ge­löst, neue Denk- und Arbeits­wei­sen zukunfts­tra­gend ein­ge­führt wer­den. Es reicht heute nicht mehr aus, ein Fahr­zeug her­zu­stel­len: Statt­des­sen müs­sen die Ent­wick­ler das gesam­te mobi­le Öko­sys­tem mit­ein­be­zie­hen – von neuen Lade­tech­no­lo­gien bei E‑Autos über das Zusam­men­spiel von Mobi­le Devices bis hin zu top­ak­tu­el­len, smar­ten Kundenservices.

Kein Weg zurück

Was Kunden wollen, ist eine durchgängige Vernetzung des Fahrzeugs mit der Umwelt.

Dr. Steffen WirthDr. Steffen Wirth
Associate Partner bei
Porsche Consulting

Das Umden­ken ist irrever­si­bel, denn es gilt, die stei­gen­de tech­no­lo­gi­sche Kom­ple­xi­tät in den Griff zu bekom­men. Die Ver­net­zung der Pro­duk­te über das gesam­te Öko­sys­tem hin­weg erschwert den Sach­ver­halt. „Was Kun­den wol­len, ist eine durch­gän­gi­ge Ver­net­zung des Fahr­zeugs mit der Umwelt – dar­auf müs­sen sich alle Geschäfts­be­rei­che eines Unter­neh­mens ein­stel­len“, sagt Dr. Stef­fen Wirth, Asso­cia­te Part­ner bei Por­sche Consulting.

Wirth gibt ein Bei­spiel für die neue mobi­le Welt: „In naher Zukunft tippe ich auf dem Handy eine Route ein, das Fahr­zeug erkennt beim Ein­stieg meine Akti­vi­tät, über­nimmt das Ziel, zeigt die für mich rele­van­ten Lade­säu­len an und bucht mir gleich­zei­tig den Auf­ent­halt in einem von mir prä­fe­rier­ten Hotel.“ Die Her­aus­for­de­rung laut Wirth: „Die Chan­ce der Ver­net­zung ist gleich­zei­tig einer der gro­ßen, zukünf­ti­gen Kom­ple­xi­täts­trei­ber in der Mobi­li­täts­welt. Eta­blier­te Ent­wick­lungs­me­tho­den kön­nen das nicht mehr effi­zi­ent handhaben.“

Fahr­zeu­ge müs­sen in Zukunft über die not­wen­di­gen Schnitt­stel­len zu Dritt­an­bie­tern ver­fü­gen: Neue, intel­li­gen­te Pro­dukt-Dienst­leis­tungs­kom­bi­na­tio­nen erfor­dern die­ses eng ver­zahn­te Zusam­men­wir­ken zwin­gend – etwa, wenn das Auto wäh­rend der Urlaubs­fahrt selbst­stän­dig einen Rei­fen­wech­sel­ter­min beim Händ­ler bucht. Auto­käu­fer erwar­ten ver­netz­te All-in-One-Lösun­gen, die sich naht­los in ihren All­tag inte­grie­ren las­sen. Doch nicht nur die Kom­ple­xi­tät steigt damit für die Auto­mo­bil­her­stel­ler – auch der Ren­di­te­druck. „Unter­neh­men müs­sen die grund­sätz­li­che Leist­bar­keit in den Ent­wick­lungs­teams sicher­stel­len und vor allem auch die Trans­for­ma­ti­on mög­lichst effi­zi­ent und fle­xi­bel gestal­ten“, sagt Andre­as Schne­le, Part­ner bei Por­sche Con­sul­ting.

Die Kraft der 4 P

Mehr Effizienz in Unternehmen ist kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis einer ausgereiften Strategie: Diese muss Fachkompetenz aufbauen, die Produktivität verbessern, Prozesse optimieren und schlagkräftige Kooperationsnetzwerke knüpfen. Automobilhersteller haben dies erkannt und setzen die 4P-Strategie bereits mit Erfolg ein. Porsche Consulting / Clara Philippzig
„People, Partners, Performance und Process“ heißt der Ansatz, mit dem Porsche Consulting  Automobilhersteller unterstützt – ob bei der Umstellung auf emissionsfreie Antriebe und neue Technologien oder bei der Transformationssteuerung in Entwicklungsverbünden und Kooperationen. Der Wandel der Produkte und ihrer Entstehung vollzieht sich in gleicher Manier auch in anderen Branchen, der 4P-Ansatz lässt sich hier universell übertragen: Porsche Consulting ist bereits dabei, die Ansätze auf Kreuzfahrtschiffe, Landmaschinen und die Bauindustrie anzuwenden.

Kompetenzaufbau entlang des Ökosystems

Nötig ist des­halb eine umfas­sen­de Neu­aus­rich­tung im Unter­neh­men: Es geht darum, die Men­schen („Peo­p­le“), die in einem Unter­neh­men für die Umset­zung ver­ant­wort­lich sind, ein­zu­be­zie­hen, Part­ner­schaf­ten („Part­ners“), die zusätz­li­che Kom­pe­ten­zen ein­brin­gen, auf­zu­bau­en, die Effi­zi­enz („Per­for­mance“) zu stei­gern und Pro­zes­se („Pro­cess“) sys­tem­ori­en­tiert aus­zu­rich­ten. „Wir rich­ten unser stra­te­gi­sches Ziel­bild in der For­schung und Ent­wick­lung (R&D) nach genau die­sen vier P aus, um zusam­men mit dem Kun­den den rich­ti­gen Fokus zu set­zen“, erklärt Andre­as Schnele.

Diese viel­fäl­ti­gen Anfor­de­run­gen las­sen sich aber über einen aut­ar­ken, regio­na­len R&D‑Standort allein nicht mehr abbil­den. Statt­des­sen bauen die Unter­neh­men gezielt Part­ner­schafts­netz­wer­ke auf – mit Start-ups, eta­blier­ten Fir­men oder Hoch­schu­len. Sie hel­fen, Kom­pe­tenz­lü­cken zu schlie­ßen, Ent­wick­lungs­kos­ten zu sen­ken oder durch ihre Markt­nä­he indi­vi­du­el­le Kun­den­wün­sche zu erfül­len. „Die stra­te­gi­sche Aus­rich­tung eben die­ser Netz­wer­ke mit den rich­ti­gen Stand­or­ten und Koope­ra­ti­ons­part­nern sehen wir als essen­zi­el­len Stell­he­bel, um künf­tig die stark ver­netz­te Mobi­li­täts­welt zu beherr­schen“, so Wirth.

Transparenz ist die Basis für Fortschritt

Mit einer durchgängigen Produktarchitektur können wir Budgets und Ressourcen sehr genau bewerten, planen und steuern.

Sebastian BernerSebastian Berner
Associate Partner bei
Porsche Consulting

Da beim Auf­bau von Part­ner­netz­wer­ken poten­zi­ell schwä­che­re Ket­ten­glie­der unmit­tel­bar ins Gewicht fal­len, müs­sen die Her­stel­ler die Per­for­mance gleich­mä­ßig über alle Stake­hol­der hin­weg opti­mie­ren. Wich­tig dabei ist eine struk­tu­rier­te Kos­ten­trans­pa­renz – ansons­ten lässt sich eine Neu­aus­rich­tung im Netz­werk kaum bewer­ten. Der Effekt: Es kris­tal­li­sie­ren sich Best Prac­ti­ces her­aus, die es den jewei­li­gen Part­nern ermög­li­chen, von­ein­an­der zu ler­nen. „Mit einer durch­gän­gi­gen Pro­dukt­ar­chi­tek­tur und daran aus­ge­rich­te­ten Kom­pe­ten­zen haben wir eine Basis geschaf­fen, auf der wir Bud­gets und Res­sour­cen sehr genau bewer­ten, pla­nen und steu­ern kön­nen“, berich­tet Sebas­ti­an Ber­ner, Asso­cia­te Part­ner bei Por­sche Con­sul­ting über die jüngs­ten Erfol­ge. So las­sen sich Eng­päs­se an ver­schie­de­nen Stel­len fort­an durch Poten­zia­le an ande­ren aus­glei­chen: ein opti­ma­ler Ein­satz von Kapazitäten.

Sind die stra­te­gi­schen Ziele bekannt, kön­nen auf Basis der auf­ge­bau­ten Logik die erfor­der­li­chen Kom­pe­ten­zen früh­zei­tig auf­ge­zeigt wer­den – bei­spiels­wei­se in der Ent­wick­lung von KI-basier­ten Sys­te­men wie dem auto­no­men Fah­ren. So wird die Mann­schaft gezielt wei­ter­ent­wi­ckelt und ergänzt.

Entwickeln mit System

Wenn die Steue­rungs­mög­lich­kei­ten ana­ly­siert sind, stellt sich die Frage nach den geeig­ne­ten Stell­he­beln. Diese lie­gen im Wesent­li­chen in opti­mier­ten Abläu­fen und Zusam­men­ar­beits­mo­del­len. Eine der viel­ver­spre­chends­ten Mög­lich­kei­ten der künf­ti­gen For­schung und Ent­wick­lung im Auto­mo­bil­bau ist für die Exper­ten von Por­sche Con­sul­ting daher die Ein­füh­rung des Sys­tems Engi­nee­rings. Mit die­sem inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz las­sen sich kom­ple­xe tech­ni­sche Sys­te­me effi­zi­ent ent­wi­ckeln und realisieren.

Sys­tems Engi­nee­ring geht jedoch über die rei­nen Abläu­fe hin­aus und wählt einen sys­tem­ori­en­tier­ten Ansatz für die Archi­tek­tur des kom­ple­xen Pro­dukts. Das immer stär­ke­re Zusam­men­spiel von Hard­ware, Soft­ware und Mecha­nik wird gemein­sam betrach­tet: Mit­hil­fe der Sys­tem­ar­chi­tek­tur kön­nen die Her­stel­ler ein Fahr­zeug mit allen logi­schen und funk­tio­na­len Zusam­men­hän­gen „her­un­ter­bre­chen“ und dadurch die Kom­ple­xi­tät hand­hab­ba­rer machen.

Doch was genau ver­än­dert sich an den Pro­zes­sen? Bei Auto­mo­bi­len etwa wer­den die Anfor­de­run­gen ent­lang einer Art Baum­struk­tur vom Gro­ben bis in die feins­ten Ver­äs­te­lun­gen ver­knüpft – dadurch sind Zusam­men­hän­ge sofort ersicht­lich. Ein mas­si­ver Bene­fit, der keine spä­ten Über­ra­schun­gen im Ent­ste­hungs­pro­zess auf­grund von Wider­sprü­chen aus dem Anfor­de­rungs­ma­nage­ment mehr zulässt.

Und: Wenn ein Her­stel­ler Kom­po­nen­ten suk­zes­si­ve „von unten nach oben“ in Sys­te­me inte­griert und sie sin­gu­lär tes­tet, bevor sie in das Gesamt­fahr­zeug gesetzt wer­den, macht das eine effi­zi­en­te­re Feh­ler­be­he­bung mög­lich und ver­mei­det die Suche nach der „Nadel im Heu­hau­fen“: Der Ent­wick­ler wird zukünf­tig schnel­ler den Feh­ler fin­den oder das Teil­sys­tem iden­ti­fi­zie­ren, wel­ches die­sen ver­ur­sacht. Das Ergeb­nis ist ein feh­ler­frei­es Pro­dukt „on time“.

Organisationen werden anpassungsfähiger

Wenn sich Silos auflösen, wird die Basis für eine neue, kunden- und systemorientierte Organisation geschaffen.

Andreas SchneleAndreas Schnele
Partner bei
Porsche Consulting

Heute sind viele Unter­neh­men orga­ni­sa­to­risch jedoch noch nach kon­ven­tio­nel­ler, bau­teil­ori­en­tier­ter Sicht aus­ge­rich­tet – zukünf­tig wird auch hier der Sys­tem­ge­dan­ke im Vor­der­grund ste­hen. „Wenn sich die Silos in Unter­neh­men auf­lö­sen, wird dadurch die Basis für eine neue, kun­den- und sys­tem­ori­en­tier­te Orga­ni­sa­ti­on geschaf­fen“, sagt Andre­as Schne­le. Neue Rol­len wie Sys­tems Engi­neer, die eine ver­netz­te Sys­tem­denk­wei­se ver­in­ner­licht haben, avan­cie­ren in den nächs­ten Jah­ren zu Kernkompetenzen.

Denn ange­sichts der immer wei­ter wach­sen­den, glo­ba­len Part­ner­netz­wer­ke ver­än­dern sich auch die Arbeits­wei­sen von Wis­sens­ar­bei­tern künf­tig signi­fi­kant: Wis­sen muss über ein Kom­pe­tenz­ma­nage­ment trans­pa­rent und im gan­zen Netz­werk zugäng­lich sein. Für Dr. Wirth ist klar, „dass die Anpas­sungs­fä­hig­keit von Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tio­nen an ver­än­der­te Markt­be­din­gun­gen und neue Trends durch Sys­tem­ori­en­tie­rung und Agi­li­tät auf ein ganz neues Level geho­ben wird“.

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