Mobilität

Offenheit prägt die neue Chip-Kultur

Die Halbleiterkrise hat die Produktions- und Absatzpläne der Automobilindustrie ausgebremst. Wie konnte das passieren? Und wie wird die Versorgung in Zukunft sichergestellt?

08/2022

Die anspruchsvolle Halbleiterproduktion ist eine hochsensible Schlüsselindustrie: Stockt die Versorgung, bekommen viele Branchen ernste Probleme.Getty Images | Image Source | Monty Rakusen

Jahr­zehn­te­lang war die Auto­mo­bil­pro­duk­ti­on bekannt für sta­bi­le Lie­fer­pro­zes­se. In jedem Fahr­zeug sind Tau­sen­de von Kom­po­nen­ten ver­baut, die welt­weit von Hun­der­ten Zulie­fe­rern gefer­tigt wer­den – und jedes ein­zel­ne Bau­teil war pünkt­lich am Mon­ta­ge­band zur Stel­le, wenn es gebraucht wurde.

Im Jahr 2021 ris­sen plötz­lich die sonst so robus­ten Zulie­fer­ket­ten. Schuld daran tra­gen aus­ge­rech­net die Bau­tei­le, denen künf­tig eine Schlüs­sel­rol­le für die Funk­tio­nen der Autos und auch für den Mar­ken­kern der Her­stel­ler zukommt: die Halb­lei­ter. Weil sie nach wie vor feh­len, kön­nen Fahr­zeu­ge nicht oder nur mit Ver­zö­ge­rung fer­tig­ge­stellt wer­den. Nach Anga­ben des deut­schen Ver­ban­des der Auto­mo­bil­in­dus­trie (VDA) wer­den im Jahr 2022 allein in den deut­schen Auto­fa­bri­ken 700.000 Fahr­zeu­ge weni­ger pro­du­ziert. Das ist ein Minus von rund 13 Pro­zent gegen­über dem Vor­jahr. Wirk­li­che Bes­se­rung der Halb­lei­ter­ver­sor­gung ist wohl erst ab der zwei­ten Jah­res­hälf­te 2023 in Sicht.

Mehrfache Reise um die Welt

Die Grün­de für die Eng­päs­se sind viel­schich­tig. Coro­nabe­ding­te Betriebs­schlie­ßun­gen in Asien spie­len eben­so eine Rolle wie der Brand in einer wich­ti­gen japa­ni­schen Chip­fa­brik im Früh­jahr 2021 und die Tat­sa­che, dass die Mikro­chip­fer­ti­gung außer­or­dent­lich kom­plex und ent­spre­chend anfäl­lig ist. Dr. Hagen Radow­ski, Seni­or Part­ner bei Por­sche Con­sul­ting, hat mehr als zwan­zig Jahre Erfah­rung in der IT-Bran­che. Er sagt: „Die Halb­lei­ter­pro­duk­ti­on ist einer der anspruchs­volls­ten Wert­schöp­fungs­pro­zes­se, den der Mensch erfun­den hat – mit mehr als 130 Ein­zel­schrit­ten vom Sand­korn bis zum fer­ti­gen Chip.“ Dabei rei­sen die wer­den­den Halb­lei­ter in ihrer Ent­ste­hungs­pha­se mehr­fach um die Welt. Und die ein­zel­nen Schrit­te sind in sich schon sehr kom­plex: Bei der neu­es­ten Chip­ge­ne­ra­ti­on mit fünf bis neun Nano­me­tern Packungs­dich­te fin­den die Pro­zes­se nahe­zu im ato­ma­ren Bereich statt und sind ent­spre­chend aufwendig.

Mit wel­chen Stra­te­gien und Maß­nah­men sor­gen die Auto­her­stel­ler vor, dass ein sol­cher Man­gel ers­tens schnell beho­ben wird und sich zwei­tens nicht wie­der­ho­len kann? Zunächst stre­ben sie an, die Pro­zes­se bes­ser zu ver­ste­hen und die Lie­fer­ket­ten stär­ker zu steu­ern. Das war bis­her nur schwer mög­lich, weil der Groß­teil der Halb­lei­ter im Fahr­zeug in Kom­po­nen­ten steckt, die von den vie­len Zulie­fe­rern der Fahr­zeug­her­stel­ler kom­men. „Die Auto­her­stel­ler suchen jetzt ver­stärkt das direk­te Gespräch mit den ‚Lie­fe­ran­ten der Lie­fe­ran­ten‘ in der Chip­fer­ti­gung – bis in höchs­te Ebe­nen. Der Chip-Ein­kauf ist ein Vor­stands­the­ma und steht inzwi­schen über­all ganz oben auf der Agen­da“, so Radowski.

Dr. Hagen Radowski, Senior Partner, Porsche Consulting GmbHPorsche Consulting

Eigene Chip-Kompetenz aufbauen

Min­des­tens eben­so wich­tig aus Sicht der Auto­her­stel­ler ist das Ziel, eige­ne Chip-Kom­pe­tenz auf­zu­bau­en. Ist das ein Stra­te­gie­wech­sel bei der Frage „Make or buy“? Radow­ski: „Nein, die Auto­her­stel­ler zie­len damit nicht auf die Inhouse-Fer­ti­gung von Halb­lei­tern. Sie stre­ben an, gemein­sam mit den Halb­lei­ter­her­stel­lern Chips zu ent­wi­ckeln und damit zum Fab­less-Chip-Desi­gner zu wer­den. So machen es auch welt­be­kann­te Computer‑, Tablet- und Smart­phone-Her­stel­ler. Die Fer­ti­gung der Chips über­neh­men dann soge­nann­te Found­ries als unab­hän­gi­ge Dienstleister.“

Die eige­ne Chip-Kom­pe­tenz dient nicht allein dem Zweck, unab­hän­gi­ger von den ein­schlä­gi­gen Lie­fe­ran­ten zu wer­den. Es geht auch um das Tech­no­lo­gie-Know-how: „Künf­tig wer­den die Chips letzt­lich für die Dif­fe­ren­zie­rung der Mar­ken und Fahr­zeu­ge sor­gen. Über sie wer­den die Fahr­zeu­ge mit der Cloud ver­knüpft, sie orga­ni­sie­ren das auto­no­me Fah­ren und man wird über sie Leis­tun­gen tem­po­rär zubu­chen oder attrak­ti­ve Dienst­leis­tun­gen bestel­len. Die Auto­her­stel­ler wer­den es sich nicht leis­ten kön­nen und wol­len, die Kennt­nis der Pro­duk­te, die all das ermög­li­chen, an Zulie­fe­rer oder gar an die Zulie­fe­rer der Zulie­fe­rer zu delegieren.“

Neue Kapazitäten in Europa

Das Pro­blem ist also adres­siert – aber ist damit auch das Risi­ko gebannt, dass es künf­tig wie­der zu Lie­fer­eng­päs­sen bei Halb­lei­tern kom­men könn­te? Auf der Pro­duk­ti­ons­sei­te ist mit­tel­fris­tig Ent­span­nung zumin­dest mög­lich, und die Fer­ti­gung rückt räum­lich näher. Bosch hat ange­kün­digt, die Pro­duk­ti­on von Mikro­chips für die Auto­mo­bil­in­dus­trie deut­lich aus­zu­bau­en, auch an zwei Stand­or­ten in Deutschland.

Die Poli­tik hat eben­falls schon gehan­delt: Mit dem Euro­pean Chips Act för­dert die Euro­päi­sche Union (EU) die Ansied­lung von Halb­lei­ter­her­stel­lern in Euro­pa. Mar­kan­tes­tes Ein­zel­pro­jekt ist aktu­ell die Chip­fa­brik, die Intel in der ost­deut­schen Stadt Mag­de­burg bauen wird – mit einem Inves­ti­ti­ons­vo­lu­men von rund 17 Mil­li­ar­den Euro. Bis sie in Serie pro­du­zie­ren kann, wird es dau­ern. Exper­ten wei­sen zudem dar­auf hin, dass bei den sehr weni­gen und hoch spe­zia­li­sier­ten Her­stel­lern der Pro­duk­ti­ons­an­la­gen Eng­päs­se drohen.

Kleiner, aber stärker – das ist die Devise

Gebannt ist die Gefahr der Lie­fer­eng­päs­se somit noch nicht – zumal die Chip­nach­fra­ge der Auto­her­stel­ler und ihrer Zulie­fe­rer in den kom­men­den Jah­ren kräf­tig stei­gen wird. Hinzu kommt, dass kom­ple­xe Funk­tio­nen wie das auto­no­me Fah­ren anspruchs­vol­le­re Mikro­chips erfor­dern. Radow­ski: „Im Moment bewegt sich der Bedarf der Auto­mo­bil­in­dus­trie über­wie­gend im Main­stream-Bereich von 20 Nano­me­tern und grö­ßer pro Tran­sis­tor. Wenn das auto­no­me Fah­ren zum Stan­dard wird, braucht man leis­tungs­fä­hi­ge­re – und das heißt: klei­ne­re – Chips sowohl im Auto als auch in der Infra­struk­tur, und das in deut­lich grö­ße­ren Stück­zah­len als bisher.“

Die meis­ten Auto­her­stel­ler gehen davon aus, dass ihr Bedarf an Halb­lei­tern in den kom­men­den Jah­ren etwa dop­pelt so stark stei­gen wird wie der Gesamt­be­darf aller Bran­chen. Also muss die Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tät der Chip­her­stel­ler enorm aus­ge­baut wer­den. Die nächs­ten „Ver­tei­lungs­kämp­fe“ schei­nen vor­pro­gram­miert, zumal der Bau einer neuen Chip­fa­brik min­des­tens vier Jahre dau­ert. Kurz­fris­ti­ge Reak­tio­nen auf neue Eng­päs­se sind in die­sem Bereich kaum möglich.

Kooperation statt Konkurrenz

Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel im Lieferantenmanagement: Das Modell der Zusammenarbeit zwischen Autoherstellern, First und Second Tier und Halbleiterherstellern wird sich grundlegend ändern.

 Dr. Hagen Radowski Dr. Hagen Radowski
Senior Partner bei Porsche Consulting

Wie begeg­net die Bran­che die­sem Pro­blem? Radow­ski: „Wir ste­hen vor einem Para­dig­men­wech­sel im Lie­fe­ran­ten­ma­nage­ment: Das Modell der Zusam­men­ar­beit zwi­schen Auto­her­stel­lern, First und Second Tier und Halb­lei­ter­her­stel­lern wird sich grund­le­gend ändern. Die Auto­her­stel­ler müs­sen und wer­den sich stär­ker ein­brin­gen, auch ange­sichts des Wett­be­werbs mit ande­ren Bran­chen.“ Wie wird das kon­kret aus­se­hen? Ein Bei­spiel: „Meh­re­re euro­päi­sche Auto­mo­bil­her­stel­ler und Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer haben die Infor­ma­ti­ons­platt­form Catena‑X gegrün­det, um ihre Lie­fer­ket­ten trans­pa­ren­ter zu machen und ihren mit­tel- bis lang­fris­ti­gen Bedarf an den ein­zel­nen Halb­lei­ter­pro­duk­ten zu kom­mu­ni­zie­ren. Daran kön­nen sich die Chip­her­stel­ler ori­en­tie­ren und ihre Pro­duk­ti­ons­pla­nung am Bedarf aus­rich­ten.“ Zum Para­dig­men­wech­sel gehö­ren also auch Offen­heit, Trans­pa­renz unter Wett­be­wer­bern und ver­stärk­te Zusam­men­ar­beit. Reine Kon­kur­renz hilft da nicht weiter.

Noch nicht am Ende: das Moore'sche Gesetz

Seit 1965 bestimmt in der Halbleiterbranche das Moore’sche Gesetz die Entwicklung der Mikrochips: Etwa alle anderthalb Jahre verdoppelt sich die Leistungsdichte der Chips. Jetzt ist bei den integrierten Schaltkreisen, den Wafern, kaum noch Steigerung möglich, die Fertigung bei einer Packungsdichte von unter 10 Nanometern ist hochkomplex und bewegt sich nahezu auf atomarer Ebene. Aber es gibt trotzdem noch „Luft nach unten“: Die Chiphersteller arbeiten mit neuen Gehäusebauformen, und sie fertigen „Systems on a chip“ sowie „Chiplets“ mit Zusatzfunktionen wie Speichern und Antennen. Darüber hinaus nutzen sie neue Kontaktierungstechnologien. Und durch das Stapeln von mehreren Chipschichten lassen sich ebenfalls deutliche Leistungssteigerungen auf gleichem Bauraum erzielen. Es spricht also vieles dafür, dass das Moore’sche Gesetz weiter Gültigkeit haben wird, auch wenn die Transistoreinheiten selbst nicht weiter miniaturisiert werden können.

Braun-
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