Das Rad
neu erfinden
Die Entstehung von Produkten wandelt sich grundlegend. Unternehmen müssen die steigende Komplexität beherrschbar machen und etablierte Entwicklungsgrundsätze strategisch neu denken. Mit dem Fokus auf systemische Prozesse lassen sich derzeit schon Automobile effizienter entwickeln, umsetzen und schneller auf den Markt bringen. Das Prinzip ist jedoch universell – und daher auch auf andere Industrien anwendbar.
06/2022
Die vielleicht größte Transformation ihrer Geschichte vollzieht sich aktuell bei den großen Automobilkonzernen. Früher als reine Fahrzeughersteller anerkannt und von ihren Fans für ihre individuellen Vorzüge geliebt, entwickeln sie sich weiter zu Anbietern umfassender Mobilitätskonzepte. Themen wie E‑Mobilität, autonomes Fahren, Digitalisierung und Konnektivität lassen um sie herum neue Märkte entstehen. So wie nie zuvor überdenken die Fahrzeughersteller deshalb die gesamte Produktentstehung. Das Ziel: nichts geringeres als „das Rad neu zu erfinden“.
Damit diese gigantische Transformation gelingt, braucht es einen Kulturwandel: Alte Silos müssen aufgelöst, neue Denk- und Arbeitsweisen zukunftstragend eingeführt werden. Es reicht heute nicht mehr aus, ein Fahrzeug herzustellen: Stattdessen müssen die Entwickler das gesamte mobile Ökosystem miteinbeziehen – von neuen Ladetechnologien bei E‑Autos über das Zusammenspiel von Mobile Devices bis hin zu topaktuellen, smarten Kundenservices.
Kein Weg zurück
Was Kunden wollen, ist eine durchgängige Vernetzung des Fahrzeugs mit der Umwelt.
Das Umdenken ist irreversibel, denn es gilt, die steigende technologische Komplexität in den Griff zu bekommen. Die Vernetzung der Produkte über das gesamte Ökosystem hinweg erschwert den Sachverhalt. „Was Kunden wollen, ist eine durchgängige Vernetzung des Fahrzeugs mit der Umwelt – darauf müssen sich alle Geschäftsbereiche eines Unternehmens einstellen“, sagt Dr. Steffen Wirth, Associate Partner bei Porsche Consulting.
Wirth gibt ein Beispiel für die neue mobile Welt: „In naher Zukunft tippe ich auf dem Handy eine Route ein, das Fahrzeug erkennt beim Einstieg meine Aktivität, übernimmt das Ziel, zeigt die für mich relevanten Ladesäulen an und bucht mir gleichzeitig den Aufenthalt in einem von mir präferierten Hotel.“ Die Herausforderung laut Wirth: „Die Chance der Vernetzung ist gleichzeitig einer der großen, zukünftigen Komplexitätstreiber in der Mobilitätswelt. Etablierte Entwicklungsmethoden können das nicht mehr effizient handhaben.“
Fahrzeuge müssen in Zukunft über die notwendigen Schnittstellen zu Drittanbietern verfügen: Neue, intelligente Produkt-Dienstleistungskombinationen erfordern dieses eng verzahnte Zusammenwirken zwingend – etwa, wenn das Auto während der Urlaubsfahrt selbstständig einen Reifenwechseltermin beim Händler bucht. Autokäufer erwarten vernetzte All-in-One-Lösungen, die sich nahtlos in ihren Alltag integrieren lassen. Doch nicht nur die Komplexität steigt damit für die Automobilhersteller – auch der Renditedruck. „Unternehmen müssen die grundsätzliche Leistbarkeit in den Entwicklungsteams sicherstellen und vor allem auch die Transformation möglichst effizient und flexibel gestalten“, sagt Andreas Schnele, Partner bei Porsche Consulting.
Die Kraft der 4 P
Kompetenzaufbau entlang des Ökosystems
Nötig ist deshalb eine umfassende Neuausrichtung im Unternehmen: Es geht darum, die Menschen („People“), die in einem Unternehmen für die Umsetzung verantwortlich sind, einzubeziehen, Partnerschaften („Partners“), die zusätzliche Kompetenzen einbringen, aufzubauen, die Effizienz („Performance“) zu steigern und Prozesse („Process“) systemorientiert auszurichten. „Wir richten unser strategisches Zielbild in der Forschung und Entwicklung (R&D) nach genau diesen vier P aus, um zusammen mit dem Kunden den richtigen Fokus zu setzen“, erklärt Andreas Schnele.
Diese vielfältigen Anforderungen lassen sich aber über einen autarken, regionalen R&D‑Standort allein nicht mehr abbilden. Stattdessen bauen die Unternehmen gezielt Partnerschaftsnetzwerke auf – mit Start-ups, etablierten Firmen oder Hochschulen. Sie helfen, Kompetenzlücken zu schließen, Entwicklungskosten zu senken oder durch ihre Marktnähe individuelle Kundenwünsche zu erfüllen. „Die strategische Ausrichtung eben dieser Netzwerke mit den richtigen Standorten und Kooperationspartnern sehen wir als essenziellen Stellhebel, um künftig die stark vernetzte Mobilitätswelt zu beherrschen“, so Wirth.
Transparenz ist die Basis für Fortschritt
Mit einer durchgängigen Produktarchitektur können wir Budgets und Ressourcen sehr genau bewerten, planen und steuern.
Da beim Aufbau von Partnernetzwerken potenziell schwächere Kettenglieder unmittelbar ins Gewicht fallen, müssen die Hersteller die Performance gleichmäßig über alle Stakeholder hinweg optimieren. Wichtig dabei ist eine strukturierte Kostentransparenz – ansonsten lässt sich eine Neuausrichtung im Netzwerk kaum bewerten. Der Effekt: Es kristallisieren sich Best Practices heraus, die es den jeweiligen Partnern ermöglichen, voneinander zu lernen. „Mit einer durchgängigen Produktarchitektur und daran ausgerichteten Kompetenzen haben wir eine Basis geschaffen, auf der wir Budgets und Ressourcen sehr genau bewerten, planen und steuern können“, berichtet Sebastian Berner, Associate Partner bei Porsche Consulting über die jüngsten Erfolge. So lassen sich Engpässe an verschiedenen Stellen fortan durch Potenziale an anderen ausgleichen: ein optimaler Einsatz von Kapazitäten.
Sind die strategischen Ziele bekannt, können auf Basis der aufgebauten Logik die erforderlichen Kompetenzen frühzeitig aufgezeigt werden – beispielsweise in der Entwicklung von KI-basierten Systemen wie dem autonomen Fahren. So wird die Mannschaft gezielt weiterentwickelt und ergänzt.
Entwickeln mit System
Wenn die Steuerungsmöglichkeiten analysiert sind, stellt sich die Frage nach den geeigneten Stellhebeln. Diese liegen im Wesentlichen in optimierten Abläufen und Zusammenarbeitsmodellen. Eine der vielversprechendsten Möglichkeiten der künftigen Forschung und Entwicklung im Automobilbau ist für die Experten von Porsche Consulting daher die Einführung des Systems Engineerings. Mit diesem interdisziplinären Ansatz lassen sich komplexe technische Systeme effizient entwickeln und realisieren.
Systems Engineering geht jedoch über die reinen Abläufe hinaus und wählt einen systemorientierten Ansatz für die Architektur des komplexen Produkts. Das immer stärkere Zusammenspiel von Hardware, Software und Mechanik wird gemeinsam betrachtet: Mithilfe der Systemarchitektur können die Hersteller ein Fahrzeug mit allen logischen und funktionalen Zusammenhängen „herunterbrechen“ und dadurch die Komplexität handhabbarer machen.
Doch was genau verändert sich an den Prozessen? Bei Automobilen etwa werden die Anforderungen entlang einer Art Baumstruktur vom Groben bis in die feinsten Verästelungen verknüpft – dadurch sind Zusammenhänge sofort ersichtlich. Ein massiver Benefit, der keine späten Überraschungen im Entstehungsprozess aufgrund von Widersprüchen aus dem Anforderungsmanagement mehr zulässt.
Und: Wenn ein Hersteller Komponenten sukzessive „von unten nach oben“ in Systeme integriert und sie singulär testet, bevor sie in das Gesamtfahrzeug gesetzt werden, macht das eine effizientere Fehlerbehebung möglich und vermeidet die Suche nach der „Nadel im Heuhaufen“: Der Entwickler wird zukünftig schneller den Fehler finden oder das Teilsystem identifizieren, welches diesen verursacht. Das Ergebnis ist ein fehlerfreies Produkt „on time“.
Organisationen werden anpassungsfähiger
Wenn sich Silos auflösen, wird die Basis für eine neue, kunden- und systemorientierte Organisation geschaffen.
Heute sind viele Unternehmen organisatorisch jedoch noch nach konventioneller, bauteilorientierter Sicht ausgerichtet – zukünftig wird auch hier der Systemgedanke im Vordergrund stehen. „Wenn sich die Silos in Unternehmen auflösen, wird dadurch die Basis für eine neue, kunden- und systemorientierte Organisation geschaffen“, sagt Andreas Schnele. Neue Rollen wie Systems Engineer, die eine vernetzte Systemdenkweise verinnerlicht haben, avancieren in den nächsten Jahren zu Kernkompetenzen.
Denn angesichts der immer weiter wachsenden, globalen Partnernetzwerke verändern sich auch die Arbeitsweisen von Wissensarbeitern künftig signifikant: Wissen muss über ein Kompetenzmanagement transparent und im ganzen Netzwerk zugänglich sein. Für Dr. Wirth ist klar, „dass die Anpassungsfähigkeit von Entwicklungsorganisationen an veränderte Marktbedingungen und neue Trends durch Systemorientierung und Agilität auf ein ganz neues Level gehoben wird“.