Nachtschicht nach Fahrplan
Kaum sind die letzten Fahrgäste ausgestiegen, wird die ICE-Flotte über Nacht fit gemacht. Auch dabei ist der Fahrplan eng getaktet, zeigt ein Blick ins neueste Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn.
09/2020
Rolltor geöffnet, Signal auf Grün: Im Schritttempo gleitet der ICE-Hochgeschwindigkeitszug nach Sonnenuntergang in die 410 Meter lange Halle mit vier Gleisen. Gleich wird der weiße Intercity-Express genau am markierten Punkt anhalten – im modernsten Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn. Erst im Juni 2018 wurde die blitzsaubere umweltfreundliche Anlage im Kölner Stadtteil Nippes in Betrieb genommen. Und seitdem ist Sonja Askew als Leiterin Bereitstellung und Instandhaltung die Standortchefin. Sie steht an der Spitze eines Teams technischer Fachkräfte, die jede Nacht die schnellen Züge von außen und innen auf Herz und Nieren prüfen, reinigen, reparieren und frühmorgens pünktlich auf die nächste Fahrt mit mehr als 800 Reisenden schicken.
Die Standortleiterin blickt auf die Uhr, als der ICE zum Stehen kommt. Eingeplant ist er für die sogenannte Laufwerkskontrolle und Nachschau IS 200. Es ist das Kürzel für die zweitkleinste routinemäßige Stufe der Instandhaltung. In weniger als sechs Stunden warten schon die nächsten Fahrgäste auf diesen Zug. Der ICE 3 ist 200 Meter lang, 410 Tonnen schwer und zugelassen für eine Höchstgeschwindigkeit von 330 Kilometern pro Stunde. Jetzt muss jeder Handgriff zuverlässig sitzen, ähnlich wie beim Boxenstopp auf der Autorennstrecke. Sicherheit, Qualität und Komfort für die Bahnkunden stehen im Mittelpunkt. Und noch etwas zählt: absolute Pünktlichkeit. Liefe der Zug am nächsten Morgen nicht rechtzeitig im nahen Kölner Hauptbahnhof ein, würde das nicht nur dort wartende Bahnkunden ärgern, auch der Fahrplan auf dem stark frequentierten Streckennetz könnte unter der Verspätung leiden. Eine Kettenreaktion.
Alle 30 Minuten von City zu City
An der kontinuierlichen Verbesserung der vielfältigen Faktoren, die Einfluss auf die Pünktlichkeit im Schienenverkehr haben, arbeitet der Verkehrskonzern Deutsche Bahn ständig. Das wird jetzt noch wichtiger als bisher. Denn der Mobilitätsdienstleister hat sich selbst große Ziele gesteckt. Künftig sollen seine schnellsten Züge im „Deutschlandtakt“ unterwegs sein: „Wir werden den Fernverkehr zwischen den großen deutschen Metropolen konsequent im 30-Minuten-Takt fahren lassen“, sagt Berthold Huber, Vorstand Personenverkehr, und erklärt so einen wichtigen Pfeiler der Konzernstrategie. Sie trägt den Namen „Starke Schiene“ und soll die Bahn zum attraktivsten Verkehrsmittel für ihre Kunden machen. Die Chancen stehen gut. Im Personenverkehr sind moderne, leistungsstarke und vor allem kundenorientierte Zugverbindungen gefragt. Sie gelten als zentrale Komponente in einer sinnvollen Vernetzung zukunftsgerechter Verkehrsträger. Und die schwere Luftfahrtkrise, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, könnte Flugreisende zum Umsteigen in die Bahn bewegen – sowohl im Privatverkehr als auch im noch lukrativeren nationalen Geschäftsreisen-Segment.
Den Anfang beim deutschen Halbstundentakt will die Bahn auf einer wirklich starken Schiene machen – der bei Business- und Privatreisenden besonders beliebten City-Verbindung zwischen der Hafenstadt Hamburg und der Hauptstadt Berlin, kündigt Vorstand Huber an. Der ICE schafft die teilweise schnurgerade Schnellfahrstrecke durchs Flachland in 106 Minuten. Autofahrer brauchen für die Distanz von rund 280 Kilometern oft die doppelte Zeit. Die Bahn wirbt im Jahr 2020 mit Einstiegspreisen deutlich unter 20 Euro. Dabei verkehrt sie hier, abgesehen von langsameren Fernbussen, nahezu konkurrenzlos. Denn Flüge gibt es auf dieser relativ kurzen Route mangels Rentabilität schon seit 2002 nicht mehr. Doch die hohe Nachfrage auf der Schiene will auch gut bedient werden. Für den Halbstundentakt werden mehr Züge gebraucht. Sie legen mehr Kilometer zurück und benötigen dementsprechend mehr Wartung, Inspektionen und Reparaturen.
Leistung verdoppelt – wie geht das?
Hohe Transparenz, doppelte Frequenz
Da kommen das Instandhaltungswerk Köln und die acht weiteren Instandhaltungswerke für den Fernverkehr der Bahn ins Spiel: Sie müssen mehr Züge pro Nacht schaffen, und zwar ohne Zugeständnisse bei Sicherheit und Qualität. Aber auch mit Blick auf die Kostendisziplin. Standortleiterin Sonja Askew hat mit dieser Leistungssteigerung schon gleich nach der Eröffnung ihres neuen Werkes begonnen, unterstützt durch Spezialisten von Porsche Consulting. Sie halfen vor allem dabei, die Abläufe zu optimieren, planbarer zu werden und ein Gesamtteam mit guter Kommunikation zu formen. Das hat gut funktioniert. „Inzwischen können wir pro Nacht acht statt vier Züge instand halten. Möglich macht das im Wesentlichen eine hohe Transparenz bei der Steuerung unserer Aufgaben, verknüpft mit einem perfekten Takt, dem jeder im Team folgt“, sagt Sonja Askew. Allerdings ist das etwas einfacher gesagt als getan. Denn Askew und ihre Werksmannschaft sind Abhängige. Abhängig davon, wann die Züge wirklich im Werk eintreffen. Abhängig von Überraschungen – wie einer gerissenen Frontscheibe im ICE-Führerstand oder anderer Schäden, die sofort behoben werden müssen. Und genau dafür achten sie auf maximale Flexibilität.
Im Bürogebäude des Instandhaltungswerkes sitzen in der Abteilung Planung und Steuerung Fachreferent Hans-Peter Müller sowie neun Teammitglieder an Monitoren und legen eineinhalb Jahre im Voraus die Bereitstellung der Züge fest, die in Köln gewartet werden: Welche Arbeiten sind zu erwarten, wie lange dauern sie, wie viel Zeitpuffer sollte eingerechnet werden? Für Müller, den „Bahner von Anfang an“, dreht sich in der Planung alles um eine Zielmarke: den Messpunkt 1. Das ist die Ausfahrt des fertiggestellten Zuges aus dem Werk zur genau festgelegten Uhrzeit – zu der auch ein freier Slot auf den stark befahrenen Kölner Schienenwegen zur Verfügung steht. Die Planung umsetzen und dabei flexibel bleiben muss Philipp Stadie in der Zuführungsdisposition. Er koordiniert unter anderem die Werkslokführer, sogenannte Zugbereitsteller. Die überführen die ICE zum vier Kilometer entfernten Hauptbahnhof, wo Lokführer des Linienverkehrs sofort den Führerstand übernehmen.
Früher tauschen, weniger reparieren
Weil es in der Realität wegen unvorhersehbarer Ereignisse nicht immer nach Plan laufen kann, gibt es im Werk viel „Ad-hoc-Geschäft“, wie es Niklas von Hollen nennt. Als stellvertretender Leiter der Fahrzeugtechnik muss der Mechatronik-Ingenieur dafür sorgen, dass die Werkstatt optimal arbeiten kann. Schon bevor die ICE-Züge ins Werk rollen, übertragen sie tagsüber Zustandsmeldungen. Außerdem melden Lokführer und Zugbegleiter Störungen, die von Hollen sofort auswertet: Ob Kaffeemaschine in der Bordküche, Klimaanlage oder Traktion, das Instandhaltungswerk spart viel Zeit, wenn die anstehenden Aufgaben schon vor Eintreffen des ICE perfekt vorbereitet werden. Welches Spezialwerkzeug wird gebraucht, welches technologische Verfahren wird eingesetzt und welches Material muss direkt am Einbauort bereitliegen? Doch Niklas von Hollen will die Störungen reduzieren. Mit vorausschauender Wartung sollen Reparaturen vermieden werden. Bei Verschleißteilen werden Tauschintervalle verkürzt oder Qualitätsverbesserungen beim Material eingeführt. Das lässt sich viel besser planen als Ad-hoc-Instandsetzungen.
Dass die richtigen Ersatzteile parat liegen, dafür sorgt Emre Ibis als Fachkraft für Materialwirtschaft. „Ich muss gut disponieren und eng abgestimmt sein mit unseren Lieferanten, damit ich das angeforderte Material bei Bedarf vorrätig habe und sofort ans Werksgleis bringen kann“, sagt Ibis. Das Teile-Spektrum ist groß und variantenreich. Denn neben dem ICE 3 und dem neuen ICE 4 setzt die Bahn noch drei weitere ICE-Generationen ein. 30 Jahre und länger bleiben sie in Betrieb, inklusive Modernisierungen während der Laufzeit.
Emre Ibis muss nicht nur pure Technik wie Aggregate bereithalten, sondern auch die Ausstattung, auf die Fahrgäste Wert legen: Ersatz für defekte Info-Monitore, neue Armlehnen für einen beschädigten Sitz und auch mal Austauschteile für das Wandspiel im Kleinkindabteil. „Ich lege Wert darauf, nur beste Qualität zum Einbau zu bringen“, sagt Ibis voller Stolz und lässt dabei auch die Optik nicht aus: „Ein verkratztes Teil würde ich meinen Kollegen gar nicht erst liefern, sondern direkt zum Hersteller zurückgehen lassen.“ Und wenn Ibis selbst mal privat Bahn fährt, hat er ein kleines Ritual: „Zuerst schaue ich mich im Wagen um, ob wirklich alles in Ordnung ist und die Fahrgäste zufrieden wirken.“
„An Kölner Zügen gibt es nichts zu meckern“
Diplom-Ingenieurin Sonja Askew, die aus der Luft- und Raumfahrtindustrie zur Bahn kam, ist begeistert von der Kundenorientierung ihrer Leute. Sie motiviert die Mannschaft mit handfester interner Kommunikation. Dafür nutzt sie stets dieselbe Überschrift. Die lautet: „An Kölner Zügen gibt es nichts zu meckern.“ Der Slogan begegnet einem an vielen Stellen im Werk. Und die Identifikation damit ist spürbar – ob bei den Fachhandwerkern am Gleis oder den Planern in den Büroetagen.
Die Chefin hat noch viel mit ihren Leuten vor: Die gut geschulten, spezialisierten Handwerker sollen mehr Zeit für anspruchsvolle wertschöpfende Tätigkeiten bekommen. Dagegen könnten Roboter, Kameras und Sensoren dem Personal zeitintensive Routineprüfaufgaben abnehmen. Und den Planern und Disponenten will Sonja Askew mehr Sicherheit geben, indem die Möglichkeiten der Digitalisierung besser ausgeschöpft werden: „Wir müssen noch viel mehr mit den Daten arbeiten, die jeder Zug liefert, schon bevor er bei uns eintrifft“, sagt die Kölner Standortleiterin. Sie weiß: Jede Minute, die sie nachts spart, zahlt ein auf das Konto „Starke Schiene“ und bringt Deutschlands schnellste Züge tagsüber in Takt – künftig in den Halbstundentakt.