Mobilität

Nachtschicht nach
Fahrplan

Kaum sind die letzten Fahrgäste ausgestiegen, wird die ICE-Flotte über Nacht fit gemacht. Auch dabei ist der Fahrplan eng getaktet, zeigt ein Blick ins neueste Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn.

09/2020

Diplom-Ingenieurin Sonja Askew, Jahrgang 1983, ist Standortleiterin des ICE-Instandhaltungswerkes Köln. Anstoßkappen als Kopfbedeckungen sind hier obligatorischer Arbeitsschutz.Porsche Consulting/Marco Prosch

Rolltor geöffnet, Signal auf Grün: Im Schritttempo gleitet der ICE-Hochgeschwindigkeitszug nach Sonnenuntergang in die 410 Meter lange Halle mit vier Gleisen. Gleich wird der weiße Intercity-Express genau am markierten Punkt anhalten – im modernsten Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn. Erst im Juni 2018 wurde die blitzsaubere umweltfreundliche Anlage im Kölner Stadtteil Nippes in Betrieb genommen. Und seitdem ist Sonja Askew als Leiterin Bereitstellung und Instandhaltung die Standortchefin. Sie steht an der Spitze eines Teams technischer Fachkräfte, die jede Nacht die schnellen Züge von außen und innen auf Herz und Nieren prüfen, reinigen, reparieren und frühmorgens pünktlich auf die nächste Fahrt mit mehr als 800 Reisenden schicken.

Die Standortleiterin blickt auf die Uhr, als der ICE zum Stehen kommt. Eingeplant ist er für die sogenannte Laufwerkskontrolle und Nachschau IS 200. Es ist das Kürzel für die zweitkleinste routinemäßige Stufe der Instandhaltung. In weniger als sechs Stunden warten schon die nächsten Fahrgäste auf diesen Zug. Der ICE 3 ist 200 Meter lang, 410 Tonnen schwer und zugelassen für eine Höchstgeschwindigkeit von 330 Kilometern pro Stunde. Jetzt muss jeder Handgriff zuverlässig sitzen, ähnlich wie beim Boxenstopp auf der Autorennstrecke. Sicherheit, Qualität und Komfort für die Bahnkunden stehen im Mittelpunkt. Und noch etwas zählt: absolute Pünktlichkeit. Liefe der Zug am nächsten Morgen nicht rechtzeitig im nahen Kölner Hauptbahnhof ein, würde das nicht nur dort wartende Bahnkunden ärgern, auch der Fahrplan auf dem stark frequentierten Streckennetz könnte unter der Verspätung leiden. Eine Kettenreaktion.


Einblicke

Strenge Kontrollen von allen Seiten

Abends treffen die ICE-Züge zur Wartung ein. Die Arbeiten werden über Nacht erledigt.Porsche Consulting/Marco Prosch
Die 410 Meter lange Halle hat vier Gleise. Wird jedes doppelt belegt, passen bis zu acht ICE-Züge gleichzeitig hinein.Porsche Consulting/Marco Prosch
Nach dem Eintreffen wird der ICE innen und außen geprüft. In der Grube können Schienensegmente geöffnet werden, um Antriebsteile wie beim Boxenstopp schnell zu wechseln.Porsche Consulting/Marco Prosch
Sonja Askew setzt auf Performance durch Dialog. Tafeln für Planung und Steuerung schaffen Transparenz. Porsche Consulting/Marco Prosch
Prüfen auf allen Ebenen. Dachbühnen schaffen schnellen Zugang zu den beweglichen Bügeln der ICE-Stromabnehmer.Porsche Consulting/Marco Prosch
In der engen ICE-Bordküche muss die CO2-Versorgung der Bier-Zapfanlage funktionieren. Ein Fall für Mechatroniker Marcel Rickmann.Porsche Consulting/Marco Prosch
Ultraschall-Sicherheitsprüfung am Radsatz. Selbst kleinste, fürs Auge unsichtbare Risse erkennt Hakan Ilgin am Monitor frühzeitig.Porsche Consulting/Marco Prosch
Praxis: Diplom-Ingenieurin Sonja Askew hat auch eine Mechatronikerinnen-Ausbildung. Sie schätzt den fachlichen Austausch, hier mit Referent David Urbild.Porsche Consulting/Marco Prosch
Sichtprüfung am Schlingerdämpfer. Der sorgt für Stabilität und Komfort während der schnellen Fahrt.Porsche Consulting/Marco Prosch
Kleine Ölflecken am Primärdämpfer des Radsatzes kündigen ein Leck an. Das Bauteil wird von Emre Demir (rechts) getauscht, der Vorgang von Martin Dumnitch digital dokumentiert – mit Corona-Abstand.Porsche Consulting/Marco Prosch

Alle 30 Minuten von City zu City

An der kontinuierlichen Verbesserung der vielfältigen Faktoren, die Einfluss auf die Pünktlichkeit im Schienenverkehr haben, arbeitet der Verkehrskonzern Deutsche Bahn ständig. Das wird jetzt noch wichtiger als bisher. Denn der Mobilitätsdienstleister hat sich selbst große Ziele gesteckt. Künftig sollen seine schnellsten Züge im „Deutschlandtakt“ unterwegs sein: „Wir werden den Fernverkehr zwischen den großen deutschen Metropolen konsequent im 30-Minuten-Takt fahren lassen“, sagt Berthold Huber, Vorstand Personenverkehr, und erklärt so einen wichtigen Pfeiler der Konzernstrategie. Sie trägt den Namen „Starke Schiene“ und soll die Bahn zum attraktivsten Verkehrsmittel für ihre Kunden machen. Die Chancen stehen gut. Im Personenverkehr sind moderne, leistungsstarke und vor allem kundenorientierte Zugverbindungen gefragt. Sie gelten als zentrale Komponente in einer sinnvollen Vernetzung zukunftsgerechter Verkehrsträger. Und die schwere Luftfahrtkrise, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, könnte Flugreisende zum Umsteigen in die Bahn bewegen – sowohl im Privatverkehr als auch im noch lukrativeren nationalen Geschäftsreisen-Segment.

Den Anfang beim deutschen Halbstundentakt will die Bahn auf einer wirklich starken Schiene machen – der bei Business- und Privatreisenden besonders beliebten City-Verbindung zwischen der Hafenstadt Hamburg und der Hauptstadt Berlin, kündigt Vorstand Huber an. Der ICE schafft die teilweise schnurgerade Schnellfahrstrecke durchs Flachland in 106 Minuten. Autofahrer brauchen für die Distanz von rund 280 Kilometern oft die doppelte Zeit. Die Bahn wirbt im Jahr 2020 mit Einstiegspreisen deutlich unter 20 Euro. Dabei verkehrt sie hier, abgesehen von langsameren Fernbussen, nahezu konkurrenzlos. Denn Flüge gibt es auf dieser relativ kurzen Route mangels Rentabilität schon seit 2002 nicht mehr. Doch die hohe Nachfrage auf der Schiene will auch gut bedient werden. Für den Halbstundentakt werden mehr Züge gebraucht. Sie legen mehr Kilometer zurück und benötigen dementsprechend mehr Wartung, Inspektionen und Reparaturen.

Zusammenarbeit mit Porsche Consulting

Leistung verdoppelt – wie geht das?

Christian Dittmer-Peters, Partner, Porsche ConsultingPorsche Consulting
„In einem ICE-Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn ist die ideale Situation ähnlich wie beim Boxenstopp auf der Autorennstrecke. Jede Sekunde zählt und jeder im perfekt trainierten Team erfüllt seine Aufgaben im richtigen Takt“, sagt Christian Dittmer-Peters. Als Partner bei der Managementberatung Porsche Consulting haben er und sein Expertenteam die Bahn dabei unterstützt, im Kölner Werk ein wichtiges Ziel zu erreichen: Acht statt vier ICE-Züge können jetzt in einer Schicht gewartet werden. „Verbesserte Planung und Steuerung mit digitaler Unterstützung, einheitliche Kommunikation sowie intensives Training aller Beteiligten führen zum verbesserten Zusammenspiel des Personals und zu besserer Auslastung der Ressourcen. Durch klare Visualisierung sind die Werkstattabläufe nun für jeden sichtbar“, sagt Dittmer-Peters. Das wichtigste sichtbare Ziel dabei: Sobald ein ICE fertig ist, macht er das Gleis frei für den nächsten Zug. Motto: Keine kostbare Zeit in der „Box“ verschwenden, schnell wieder auf die Strecke – wie beim Autorennen.

Hohe Transparenz, doppelte Frequenz

Da kommen das Instandhaltungswerk Köln und die acht weiteren Instandhaltungswerke für den Fernverkehr der Bahn ins Spiel: Sie müssen mehr Züge pro Nacht schaffen, und zwar ohne Zugeständnisse bei Sicherheit und Qualität. Aber auch mit Blick auf die Kostendisziplin. Standortleiterin Sonja Askew hat mit dieser Leistungssteigerung schon gleich nach der Eröffnung ihres neuen Werkes begonnen, unterstützt durch Spezialisten von Porsche Consulting. Sie halfen vor allem dabei, die Abläufe zu optimieren, planbarer zu werden und ein Gesamtteam mit guter Kommunikation zu formen. Das hat gut funktioniert. „Inzwischen können wir pro Nacht acht statt vier Züge instand halten. Möglich macht das im Wesentlichen eine hohe Transparenz bei der Steuerung unserer Aufgaben, verknüpft mit einem perfekten Takt, dem jeder im Team folgt“, sagt Sonja Askew. Allerdings ist das etwas einfacher gesagt als getan. Denn Askew und ihre Werksmannschaft sind Abhängige. Abhängig davon, wann die Züge wirklich im Werk eintreffen. Abhängig von Überraschungen – wie einer gerissenen Frontscheibe im ICE-Führerstand oder anderer Schäden, die sofort behoben werden müssen. Und genau dafür achten sie auf maximale Flexibilität.

Im Bürogebäude des Instandhaltungswerkes sitzen in der Abteilung Planung und Steuerung Fachreferent Hans-Peter Müller sowie neun Teammitglieder an Monitoren und legen eineinhalb Jahre im Voraus die Bereitstellung der Züge fest, die in Köln gewartet werden: Welche Arbeiten sind zu erwarten, wie lange dauern sie, wie viel Zeitpuffer sollte eingerechnet werden? Für Müller, den „Bahner von Anfang an“, dreht sich in der Planung alles um eine Zielmarke: den Messpunkt 1. Das ist die Ausfahrt des fertiggestellten Zuges aus dem Werk zur genau festgelegten Uhrzeit – zu der auch ein freier Slot auf den stark befahrenen Kölner Schienenwegen zur Verfügung steht. Die Planung umsetzen und dabei flexibel bleiben muss Philipp Stadie in der Zuführungsdisposition. Er koordiniert unter anderem die Werkslokführer, sogenannte Zugbereitsteller. Die überführen die ICE zum vier Kilometer entfernten Hauptbahnhof, wo Lokführer des Linienverkehrs sofort den Führerstand übernehmen.


Einblicke

Mit dem Ziel im Blick

„Wir wissen 18 Monate im Voraus, welcher ICE-Zug morgen zur Instandhaltung durch das Werkstor rollt.“
Hans-Peter Müller, Fachreferent Planung und Steuerung
Porsche Consulting/Marco Prosch
„Ersatzteile liefere ich meinen Werkstattkollegen zum Einbau direkt ans Gleis. Pünktlich und in tadelloser Qualität.“
Emre Ibis, Fachkraft für Materialwirtschaft
Porsche Consulting/Marco Prosch
„In der Werkstatt haben wir zwei Kunden im Blick: die ICE-Flotte und die Fahrgäste.“
Stefan Mannz, Meister
Porsche Consulting/Marco Prosch
„Wenn wir Verschleißteile früher austauschen, reduzieren wir zeitraubende ungeplante Reparaturen.“
Niklas von Hollen, Stellvertretender Leiter Fahrzeugtechnik
Porsche Consulting/Marco Prosch
„Zum Schluss sorge ich dafür, dass saubere Züge pünktlich zur Abfahrt am Hauptbahnhof stehen.“
Philipp Stadie, Zuführungsdisposition
Porsche Consulting/Marco Prosch

Früher tauschen, weniger reparieren

Weil es in der Realität wegen unvorhersehbarer Ereignisse nicht immer nach Plan laufen kann, gibt es im Werk viel „Ad-hoc-Geschäft“, wie es Niklas von Hollen nennt. Als stellvertretender Leiter der Fahrzeugtechnik muss der Mechatronik-Ingenieur dafür sorgen, dass die Werkstatt optimal arbeiten kann. Schon bevor die ICE-Züge ins Werk rollen, übertragen sie tagsüber Zustandsmeldungen. Außerdem melden Lokführer und Zugbegleiter Störungen, die von Hollen sofort auswertet: Ob Kaffeemaschine in der Bordküche, Klimaanlage oder Traktion, das Instandhaltungswerk spart viel Zeit, wenn die anstehenden Aufgaben schon vor Eintreffen des ICE perfekt vorbereitet werden. Welches Spezialwerkzeug wird gebraucht, welches technologische Verfahren wird eingesetzt und welches Material muss direkt am Einbauort bereitliegen? Doch Niklas von Hollen will die Störungen reduzieren. Mit vorausschauender Wartung sollen Reparaturen vermieden werden. Bei Verschleißteilen werden Tauschintervalle verkürzt oder Qualitätsverbesserungen beim Material eingeführt. Das lässt sich viel besser planen als Ad-hoc-Instandsetzungen.

Dass die richtigen Ersatzteile parat liegen, dafür sorgt Emre Ibis als Fachkraft für Materialwirtschaft. „Ich muss gut disponieren und eng abgestimmt sein mit unseren Lieferanten, damit ich das angeforderte Material bei Bedarf vorrätig habe und sofort ans Werksgleis bringen kann“, sagt Ibis. Das Teile-Spektrum ist groß und variantenreich. Denn neben dem ICE 3 und dem neuen ICE 4 setzt die Bahn noch drei weitere ICE-Generationen ein. 30 Jahre und länger bleiben sie in Betrieb, inklusive Modernisierungen während der Laufzeit.

Emre Ibis muss nicht nur pure Technik wie Aggregate bereithalten, sondern auch die Ausstattung, auf die Fahrgäste Wert legen: Ersatz für defekte Info-Monitore, neue Armlehnen für einen beschädigten Sitz und auch mal Austauschteile für das Wandspiel im Kleinkindabteil. „Ich lege Wert darauf, nur beste Qualität zum Einbau zu bringen“, sagt Ibis voller Stolz und lässt dabei auch die Optik nicht aus: „Ein verkratztes Teil würde ich meinen Kollegen gar nicht erst liefern, sondern direkt zum Hersteller zurückgehen lassen.“ Und wenn Ibis selbst mal privat Bahn fährt, hat er ein kleines Ritual: „Zuerst schaue ich mich im Wagen um, ob wirklich alles in Ordnung ist und die Fahrgäste zufrieden wirken.“


Einblicke

Erst Ultraschall, dann große Wäsche

Klare Sicht für den ICE-Lokführer: Marcel Rickmann füllt schnell noch das Scheibenwaschwasser auf.Porsche Consulting/Marco Prosch
An einem präparierten orangefarbenen Testradsatz wird das Ultraschall-Messgerät vor und nach jedem Einsatz auf Genauigkeit geprüft.Porsche Consulting/Marco Prosch
Gestickte Botschaft auf dem Polohemd: Mit guter Taktung und genauen Slots kann die Nachtschicht mehr Züge instand halten.Porsche Consulting/Marco Prosch
Unebenheiten an den Rädern aus Stahl werden an der riesigen Unterflur-Radsatzdrehbank ausgeglichen.Porsche Consulting/Marco Prosch
Beim „Komfortdrehen“ fallen gedrillte Metallspäne wie Locken in den Auffangbehälter. Nach der Prozedur spüren Fahrgäste kein Ruckeln mehr.Porsche Consulting/Marco Prosch
Die ICE-Waschprogramme heißen „Schnell“, „Leicht“, „Normal“ und „Intensiv“. Die Auswahl trifft die sogenannte Zuführungsdisposition nach Bedarf.Porsche Consulting/Marco Prosch
Letzter Blick in den sauberen ICE, die Chefin ist zufrieden. Sonja Askew will, dass es „an Kölner Zügen nichts zu meckern gibt“.Porsche Consulting/Marco Prosch
Sobald die nächtliche Instandhaltung abgeschlossen ist, muss der ICE die Halle räumen. Das Gleis wird sofort mit dem nächsten Zug belegt.Porsche Consulting/Marco Prosch
Ein Zugbereitstellungs-Lokführer bringt den ersten ICE kurz nach 3 Uhr früh zum Einsatz in den Kölner Hauptbahnhof. Fahrgäste warten dort schon.Porsche Consulting/Marco Prosch

„An Kölner Zügen gibt es nichts zu meckern“

Diplom-Ingenieurin Sonja Askew, die aus der Luft- und Raumfahrtindustrie zur Bahn kam, ist begeistert von der Kundenorientierung ihrer Leute. Sie motiviert die Mannschaft mit handfester interner Kommunikation. Dafür nutzt sie stets dieselbe Überschrift. Die lautet: „An Kölner Zügen gibt es nichts zu meckern.“ Der Slogan begegnet einem an vielen Stellen im Werk. Und die Identifikation damit ist spürbar – ob bei den Fachhandwerkern am Gleis oder den Planern in den Büroetagen.

Die Chefin hat noch viel mit ihren Leuten vor: Die gut geschulten, spezialisierten Handwerker sollen mehr Zeit für anspruchsvolle wertschöpfende Tätigkeiten bekommen. Dagegen könnten Roboter, Kameras und Sensoren dem Personal zeitintensive Routineprüfaufgaben abnehmen. Und den Planern und Disponenten will Sonja Askew mehr Sicherheit geben, indem die Möglichkeiten der Digitalisierung besser ausgeschöpft werden: „Wir müssen noch viel mehr mit den Daten arbeiten, die jeder Zug liefert, schon bevor er bei uns eintrifft“, sagt die Kölner Standortleiterin. Sie weiß: Jede Minute, die sie nachts spart, zahlt ein auf das Konto „Starke Schiene“ und bringt Deutschlands schnellste Züge tagsüber in Takt – künftig in den Halbstundentakt.

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