Mehr Spielraum
für die Bahn
In Europas Mitte gelegen, braucht Deutschland ein starkes Verkehrssystem – für den nationalen wie internationalen Transport von Menschen und Gütern. Das Schienensystem bildet dabei das Rückgrat. Doch ohne zuverlässigere Unterstützung kann es der Belastung auf Dauer kaum noch standhalten. Gibt es einen Ausweg?
11/2024
Niemals zuvor sind in Deutschland so viele Menschen mit Eisenbahnen gefahren wie heute. Und auch der Güterverkehr auf Schienen boomt in dem mitteleuropäischen Transitland. Nach der Verkehrsprognose des deutschen Bundesverkehrsministeriums für das Jahr 2040 wird bis dahin der Personenverkehr auf der Schiene um acht Prozent zulegen. Der Güterverkehr sogar um 35 Prozent. Ob Fahrgast oder gewerblicher Güterverkehrskunde – beide erwarten zuverlässige und pünktliche Transporte bei Tag und Nacht. Das erfordert vor allem eines: „freie Bahn“ – also eine ausreichend dimensionierte und wenig störanfällige Schieneninfrastruktur. Doch das deutsche Netz ist über Jahre geschrumpft. Und viele der verbliebenen Gleise und Weichen brauchen Reparaturen. Stellwerke und Signaltechnik sind noch zu selten auf dem neuesten technologischen Stand. Die Folgen dieser Gesamtsituation: überlastete Strecken und Behinderungen, unter anderem durch technische Störungen und Instandsetzungsarbeiten.
Der deutsche Staat investiert inzwischen mehr als in der Vergangenheit in den Schienenverkehr. Das Streckennetz verkleinert sich nicht mehr weiter. Doch beim Ausbau und Neubau passen Umfang und Tempo nicht zur Nachfrage. Bei aller andauernden Kritik: Einfach hat es die Bahn nicht. „Mehr Planungsstabilität bei Infrastrukturprojekten und mehr Zuverlässigkeit bei der Finanzierung längerfristiger Investitionen in die Zukunft“ würden der Bahn helfen, ihr System nachfragegerecht aufzustellen. Davon ist Mobilitätsexperte Marc Zacherl, Senior Partner bei der Managementberatung Porsche Consulting und Global Lead Transportation, überzeugt. Kurz gesagt: Das System Bahn braucht mehr unternehmerischen Spielraum, um sich freier entwickeln zu können. Und: Das Planungsrisiko wird zum Prellbock für den Fortschritt auf deutschen Schienen.
Eines der Hauptprobleme ist die Finanzierung. Und die ist abhängig vom Eigentümer der Bahn, dem deutschen Staat. Im Jahr 2024 investierte die Bundesrepublik mehr als 16 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur – fast doppelt so viel wie fünf Jahre zuvor. Allerdings ist das wichtigste Projekt, die Generalsanierung der 40 wichtigsten Streckenkorridore bis 2030, noch nicht durchfinanziert. Von den benötigten 45 Milliarden sind bisher lediglich 27 Milliarden vom Eigentümer zugesagt. Ende 2027 wird voraussichtlich eine Finanzierungslücke entstehen.
Kritiker urteilen: Die Finanzierung der Bahn ist Stückwerk. Statt langfristiger Zusagen muss die Bahn von Jahr zu Jahr zittern, ob neue Mittel freigegeben werden. Sind die öffentlichen Finanzmittel knapp, tröpfelt das Geld lediglich. Und wechselt zum Beispiel die Regierung, könnten neue Schwerpunkte gesetzt und alte gestrichen werden. Das Hin und Her erschwert der Bahn die Planung langfristiger Projekte. Hinzu kommt die Tatsache, dass es fast 200 verschiedene Finanzierungstöpfe für Infrastrukturprojekte gibt. Aus welchem Topf aber kommt wie viel Geld für welches Projekt? Experten empfehlen deshalb schon seit langem einen Infrastrukturfonds, der auch aus privaten Kapitalquellen gespeist wird, die Mittel bündelt und über Jahrzehnte genutzt werden kann. Das würde der Bahn mehr Spielraum geben.
Unter der Planungsunsicherheit der Bahn leiden auch ihre Geschäftspartner, Dienstleister, Hersteller von Lokomotiven und Waggons und mit Großprojekten beauftragte Bauunternehmen. Ebenso aber auch Speditionen, die Transporte umweltfreundlich mit der Bahn organisieren wollen. Porsche Consulting wollte wissen, worauf es Unternehmen und Organisationen ankommt, die eng mit der Bahn verbunden sind, und hat bei fünf führenden Fachleuten nachgefragt.
Jens Sprotte, Vice President Marketing and Strategy, Alstom:
„Wir brauchen einen klaren, transparenten Rahmen“
Alstom, Hersteller von Schienenfahrzeugen und ‑systemen, ist einer der wichtigsten Lieferanten der Deutschen Bahn. Jens Sprotte, Vice President Marketing and Strategy des französischen Konzerns, lobt die „gute Planungssicherheit“, die in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit zwischen Alstom und der Bahn geprägt hat. Durch das staatliche Ausschreibungssystem wisse man in seinem Haus, welche Strecke wann gebaut wird und welche Fahrzeuge gebraucht werden: „Das sind klare und transparente Rahmenbedingungen“, sagt Sprotte. „In letzter Zeit aber sind diese durch die Haushaltsirritationen und wechselnden politischen Marschrichtungen geschwunden.“ Er nennt ein Beispiel: Die Ausschreibung eines Bundeslandes, für das Alstom geeignete und leistungsstarke Züge anbieten könnte, wurde um fünf Jahre verschoben, „weil der zuständige Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehr nicht weiß, wie er sich künftig aufstellen kann“. Konsequenz für Alstom und den Kunden: „Wir können eine neue Fahrzeuggeneration nicht an den Markt führen, der Aufgabenträger kann weder die Kapazität noch den Komfort ausbauen.“
Jens Sprotte betont, dass die Probleme der Bahn nicht in erster Linie an der Höhe der Budgets liegen, sondern vielmehr an deren Kurzfristigkeit: „Was wir brauchen, ist ein Verkehrsmasterplan mit allen Playern, zu dem auch die Vernetzung der einzelnen Verkehrsträger zählt, und eine verlässliche langfristige Finanzierung, die auf mehreren Säulen steht.“ Darüber hinaus müsse man sich in Deutschland fragen, in welche Richtung man sich eigentlich entwickeln wolle. Stichwort: Innovationen. „Während Ausschreibungen hierzulande zu 80 bis 90 Prozent allein über den Preis entschieden werden, spielen etwa in der Schweiz und vielen nordischen Staaten Argumente wie Energieeffizienz und Innovation eine wichtigere Rolle“, sagt Sprotte. „Auch wir sollten deutlich mehr Wert auf technologische Entwicklungen legen, um die Nachhaltigkeit zu stärken. Zudem muss uns klar sein, dass gerade wir als Hochpreisland im internationalen Wettbewerb nicht über einen Preiskampf bestehen werden.“
Dr. Maximilian Altmann, Vorstandsvorsitzender ARS Altmann AG:
„Stoppt den Rückbau von Güterverkehrsgleisen!“
Die ARS Altmann AG, eines der führenden Dienstleistungsunternehmen der Fertigfahrzeuglogistik in Europa, transportiert jährlich rund 1,7 Millionen Fahrzeuge auf Schienen und Straßen von Produktionsstandorten wie Wolfsburg oder Ingolstadt zu Verladestationen wie Bremerhaven oder Ravenna. An ihren Stützpunkten übernimmt die Asset-Heavy-Spedition den gesamten Service rund um das Automobil. Den Schienentransport mit kompletten Zügen realisiert das ARS-Altmann-eigene Eisenbahnverkehrsunternehmen mit einer Flotte aus rund 3.500 geschlossenen und offenen Waggons. Für den Fernverkehr setzt man in erster Linie auf die Schiene, weil laut Vorstandschef Dr. Maximilian Altmann der Transport von Autos auf Waggons sehr sicher ist und keine aufwendige Terminal-Infrastruktur erfordert. „Für sämtliche Fahrzeuge, die ich mit einem Zug transportieren kann, bräuchte ich auf der Straße mindestens 35 Lkw“, nennt der Vorstandschef einen weiteren Pluspunkt der Bahn. „Und ich reduziere die CO2-Emissionen sowie das Risiko von Fahrzeugbeschädigungen beim Beladen.“
Der bayerische Konzern wickelt heute rund 60 Prozent seiner Transporte über die Schiene ab. Was müsste geschehen, damit ARS Altmann noch mehr Verkehr auf die Schiene verlegen könnte, um die Straßen zu entlasten? Dr. Maximilian Altmann: „Neben Planungssicherheit, die eine enorme Rolle spielt, würde uns eine Reihe niederschwelliger Maßnahmen helfen.“ Ein Beispiel sei der Stopp des Rückbaus von Güterverkehrsgleisen. Weil in Deutschland Personen- und Güterverkehrszüge auf denselben Strecken fahren, gibt es für Letztere Wartegleise, damit der Hochgeschwindigkeitszug überholen kann. Altmann: „Momentan werden hunderte Kilometer dieser Parkgleise zugunsten anderer Infrastrukturmaßnahmen der Bahn zurückgebaut. Wenn die weg sind, gibt es weniger Güterverkehr. Der aber sollte nicht ab‑, sondern ausgebaut werden. Gleiches gilt für die Infrastruktur um Fahrzeugproduktionsstandorte wie München herum, die ebenfalls zurückgebaut wird. Was nützt ein Brenner-Basistunnel, wenn etwa in München der Platz fehlt, die Züge aufzureihen?“
Stefan Bögl, Vorstandsvorsitzender der Firmengruppe Max Bögl:
„Mehr hochwertige und wirtschaftlichere Lösungen“
Gut zehn Prozent ihres Gesamtumsatzes von 2,7 Milliarden Euro macht die Firmengruppe Max Bögl mit Projekten im Bereich Schieneninfrastruktur. Das Familienunternehmen aus Sengenthal in der Oberpfalz, das an 40 Standorten rund 6.500 Mitarbeiter beschäftigt, baut für die Bahn Brücken und Tunnel. So zum Beispiel im Rahmen der Großprojekte „Feste Fehmarnbeltquerung“ in der Ostsee und „Stuttgart 21“ im Süden Deutschlands. „Wir sehen mehrere Ansätze, um Bauvorhaben der Bahn noch effizienter und schneller umsetzen zu können“, erklärt Vorstandschef Stefan Bögl. „Durch eine frühe Einbeziehung in die Planung könnten Kosten gesenkt, Termine zuverlässiger koordiniert und auch alternative Produktions- und Bauverfahren in Betracht gezogen werden. Außerdem lassen sich durch von uns entwickelte Innovationen wie die hybride Bahnbrücke, die einen Ersatzbau innerhalb einer Wochenendsperrpause ermöglicht, hochwertige und wirtschaftliche Lösungen realisieren. Und schließlich würde eine stärkere Standardisierung von Brücken die Planungs- und Bauprozesse beschleunigen und die Wirtschaftlichkeit erhöhen.“
Der Vorstandsvorsitzende des Bau‑, Technologie- und Dienstleistungsunternehmens ist zudem überzeugt, dass „funktionalere Ausschreibungsverfahren von Bauleistungen es der Industrie erleichtern, neue maßgeschneiderte Ideen zu entwickeln“. Man könne dabei neue Erkenntnisse und Best Practices aus anderen Projekten heranziehen: „Durch die Einsparungen gewinnt der Auftraggeber Freiheiten im Budget und erreicht wirtschaftlich seine Projektziele.“ Finanzierungssicherheit sei ein enorm wichtiger Punkt. Unsicherheiten führen nach Erfahrung von Stefan Bögl häufig „zu Verzögerungen und dadurch zu höheren Preisen“. Voraussetzung für eine effiziente Gesamtprojektrealisierung sei „eine kontinuierliche Projektplanung und ‑umsetzung“. Großes Potenzial sieht der Bauunternehmer in alternativen Verkehrssystemen wie der Magnetschwebebahn. Die Vorteile der Technologie lägen vor allem im verschleiß- und emissionsarmen Fahrbetrieb. Die Firmengruppe könne dazu eine eigenentwickelte schlüsselfertige Mobilitätslösung zu geringen Lebenszykluskosten anbieten.
Dr. Heike van Hoorn, Geschäftsführerin Deutsches Verkehrsforum:
„Die Schweiz liefert ein gutes Vorbild“
Das Deutsche Verkehrsforum (DVF) mit Sitz in Berlin, eine verkehrsträgerübergreifende Wirtschaftsvereinigung mit 170 Mitgliedsunternehmen, fordert seit Jahren eine bessere Finanzierung der Deutschen Bahn. In diesem Jahr stellen Bund, Länder und Gemeinden 16,4 Milliarden Euro für Investitionen in die Schieneninfrastruktur der Bahn zur Verfügung. Zu wenig für DVF-Geschäftsführerin Dr. Heike van Hoorn: „Zum einen sehen wir bei der Bahn einen Investitionsstau von inzwischen 92 Milliarden Euro, der abgebaut werden muss, zum anderen müssen Baukostensteigerungen seit 2022 von fast 30 Prozent verkraftet werden. Das frisst die angestiegenen Mittel auf. Und das vor dem Hintergrund, dass wir das Schienennetz der Bahn nicht nur erhalten wollen, sondern sanieren, modernisieren und ausbauen müssen.“ Heike van Hoorn erinnert daran, dass immer noch nur rund 60 Prozent des Gleisnetzes elektrifiziert sind. Bis 2030 sollen es 75 Prozent sein. Hinzu komme die dringend notwendige Digitalisierung. Das kostet.
Auf die Frage, woher das für die Mammutaufgaben benötigte Geld kommen soll, verweist die DVF-Geschäftsführerin auf einen bereits mehrmals gemachten Vorschlag ihrer Vereinigung: „Wir favorisieren ein Fondsmodell, das ähnlich funktioniert wie das in der Schweiz, das aus mehreren Quellen, etwa Zuwendungen von Bund und Kantonen und Erträgen aus der Mehrwert- und Mineralölsteuer, gespeist wird. Damit werden Mittel für die Schieneninfrastruktur über mehrere Jahre hinweg verlässlich und unabhängig von den jährlichen Bundeshaushalten zur Verfügung gestellt.“ Erfüllt werden müssten mit einem neuen Finanzierungskonzept drei entscheidende Kriterien: „Wir brauchen eine Langfristigkeit der Mittelbereitstellung, nicht jährlich neue Verhandlungen, die sich an der Kassenlage orientieren. Außerdem brauchen wir verlässliche Finanzierungsquellen, also etwa einen Fonds oder ein Sondervermögen. Und drittens muss es eine detaillierte Abstimmung geben zwischen den Erhaltungs‑, Ausbau- und Modernisierungsplänen, die vorgelegt werden, und der Finanzierung.“
Marc Zacherl, Senior Partner und Branchenleiter Transportation & Logistik, Porsche Consulting:
„Mehr Freiraum für Unternehmertum“
Wie soll der europäische Schienenverkehr in 15 Jahren aussehen? Wie viel Infrastruktur wird gebraucht, wenn sich beispielsweise die Anzahl der Passagiere im Personenverkehr verdoppeln soll? Und wie wird diese stabil finanziert? Das sind Fragen, die nach Überzeugung von Marc Zacherl, Senior Partner und Branchenleiter Transportation & Logistik bei Porsche Consulting, beantwortet werden müssen, bevor die Deutsche Bahn – Eigentümer ist der Bund – konkrete Maßnahmen ergreift: „Ein Masterplan, mit dem mehr Planungssicherheit ins System kommt, muss viel stärker auf unternehmerische Bedürfnisse zielen und nicht auf politischen Willen der Strukturförderung.“ Zacherl nennt als Beispiel die rund 13.000 Kilometer belastete und höchst belastete Strecken im Land, „auf denen die Musik spielt“. Für die bis 2030 angestrebte Verdoppelung des Fahrgastvolumens müsse besonders hier die Digitalisierung der Schieneninfrastruktur forciert werden: „Und das nicht bis 2050, sondern umgehend.“ Der Porsche-Consulting-Berater: „Mit der Signaltechnik, die in dieser Infrastruktur verbaut wird, lässt sich die Kapazität der Strecke um bis zu 20 Prozent steigern und die Pünktlichkeit verbessern.“
Die zweite Säule ist für Marc Zacherl „die mittelfristige Stabilität der Finanzierung“. Ein Vorbild ist für ihn Österreich, wo es seit 2003 eine sechsjährig rollierende Planung gibt. In der aktuellen Periode herrscht Stabilität bis 2029. Zacherl lobt in Deutschland zwar die von der Beschleunigungskommission Schiene zuletzt erarbeiteten Vorschläge für eine fünfjährige Stabilisierung, „aber die müssen jetzt auch schnell umgesetzt werden“. Bei der Finanzierung rät Zacherl, neben den Steuergeldern, über deren Verwendung auch Länder und Kommunen mitbestimmen, die oft divergierende Interessen haben, zusätzlich privates Kapital zu nutzen: „Durch Einbeziehung von Public-Private-Partnership könnten wir den Spielraum deutlich vergrößern.“ Zacherl empfiehlt, die Planung von Infrastrukturprojekten wie neuen Bahnstrecken von den jährlichen Haushaltsdiskussionen komplett zu entkoppeln. Weniger Politik, mehr Freiraum für Unternehmertum: „Zusätzlich muss die Komplexität des Finanzierungssystems deutlich reduziert werden, damit die Bahn mehr Spielraum bekommt.“