“Das Auto spricht mit der Versicherung”
Zurich, einer der weltgrößten Versicherer, hat ehrgeizige Ziele: noch mehr Kundenorientierung, wachsende Margen und eine Eigenkapitalrendite von 20 Prozent. Wie das geht? Ein operatives Beispiel präsentiert die deutsche Tochtergesellschaft der Schweizer.
03/2023
Die Kaskoversicherung für Autos zahlt bei Beschädigung, Zerstörung oder Verlust des Fahrzeugs. Melden Versicherungskunden einen Schaden, beginnt für die Assekuranzen ein aufwendiger, personalintensiver Prozess. In den müssen neben klassischer Sachbearbeitung fallweise auch juristische Kompetenz und Gutachten einfließen. Das dauert, ist teuer und drückt schmerzhaft auf die Margen im Kaskobereich. Horst Nussbaumer will das ändern – durch Künstliche Intelligenz und Datenanalyse in der Schadenbearbeitung. Und zwar ab der ersten Sekunde. „Jetzt spricht das Auto direkt mit der Versicherung“, sagt der Chief Operating Officer und Leiter des Bereichs Claims, IT & Operations bei der Zurich Gruppe Deutschland. Nussbaumers Konzept dreht das traditionelle Verfahren um: Im Schadenfall muss sich nicht mehr der Kunde mit seiner Versicherung in Verbindung setzen. Das Auto selbst meldet sich direkt im Crash-Moment bei der Gesellschaft und füttert die Computer mit Daten vom Ereignis. Nur einen Augenblick später setzt sich der Versicherer mit der Fahrerin oder dem Fahrer in Verbindung, um Unterstützung zu leisten. Zum Beispiel mit einem Abschleppdienst, einer einsatzbereiten Werkstatt und einem Ersatzwagen. Zukunftsmusik? Ja und nein. Es gibt bereits erste Tests.
Die Testflotte rollt
Nussbaumer lässt seit kurzem eine kleine Versuchsflotte im normalen Straßenverkehr mitrollen. Er sagt: „Schon heute senden Autos eine Fülle von Daten. Doch es gibt noch zu wenige Nutzer, die damit etwas anfangen können.“ Die technischen Voraussetzungen sind dank eingebauter Sensorik und elektronischer Vernetzung in den Fahrzeugen schon recht gut. Darauf baut der „Zurich Call“ auf. Das Ziel: Das Fahrzeug registriert einen Unfall automatisch und meldet alle relevanten Daten direkt an die Versicherung weiter. Technische Basis sind die Sensoren im Auto, der Mobilfunk und die Satellitenortung. Das Auslösen der Airbags ist beispielsweise eines der Signale, die zur Unfallmeldung an die Versicherung führen. Fahrerin oder Fahrer können die Benachrichtigung jedoch auch per Tastendruck manuell auslösen – zum Beispiel bei einem Bagatellschaden. Ein hochmotiviertes, interdisziplinäres Team arbeitet bei Zurich an der praktischen Umsetzung. „Als die Autos anfingen, miteinander zu reden, haben wir neue Chancen für uns gesehen“, erinnert sich Horst Nussbaumer, der das Thema seit rund fünf Jahren forciert. Aus der Datenflut, die Fahrzeuge liefern, galt es zunächst die Informationen zu identifizieren, die für eine Autoversicherung relevant sind. Damit nicht genug: Muster sollten erkannt werden. Welche Bauteile werden – je nach Fahrzeugtyp – bei typischen Auffahrunfällen am häufigsten beschädigt? Wie umfangreich ist im Durchschnitt der Schaden, wenn beim Einparken ein Betonpoller gerammt wird?
Zurich in Zahlen
Kompetenz vom Markt
Jetzt ging es darum, die Daten zu analysieren. Dafür hätte Zurich theoretisch neue Kompetenz aufbauen müssen. „Aber warum aufbauen, wenn es das Wissen und die Fähigkeiten anderswo am Markt bereits gibt?“, sagt Nussbaumer, der sich gezielt auf die Kernkompetenzen als Versicherer konzentriert. Und so holte er ein Team der Managementberatung Porsche Consulting an Bord. Seit Anfang 2021 arbeiten die Porsche-Fachleute quasi als Lotsen in diesem für Versicherungen bisher noch recht unbekannten Terrain mit. Nur ein Jahr später verfügt das hauseigene Projektteam der Versicherung am Zurich Campus in Köln selbst über die notwendigen Fähigkeiten sowie das Wissen, um die für die Schadenbearbeitung und Schadenregulierung relevanten Daten mithilfe Künstlicher Intelligenz richtig zu interpretieren, zu verarbeiten und in greifbare Services für den Kunden umwandeln zu können.
Nichtsdestotrotz sind bei Zurich auch weiterhin technologische Werkzeuge nur Mittel zur Verbesserung der Dienstleistungen, jedoch kein Ersatz für persönliche Betreuung: „Die Nähe zu den Menschen, zu unseren Versicherungsnehmern, hat oberste Priorität. Vertrauen ist die Basis des Versicherungsgeschäfts“, sagt Nussbaumer und fügt hinzu: „Deshalb werden wir niemals Maschinen allein arbeiten lassen, wenn es um den Dialog mit unseren Kundinnen und Kunden im Schadenfalle geht.“
Zum Vertrauen der Versicherungskunden gehört auch der sorgfältige Umgang mit ihren Daten. Die digitalen Informationen zu Unfallschäden, die via Sensoren aus dem Fahrzeug geliefert werden, gehören weder der Versicherung noch dem Automobilhersteller. Sie gehören allein dem Menschen am Lenkrad. Fahrerin oder Fahrer müssen der Nutzung zustimmen. Ist das erfolgt, kann ihnen bei einem Unfall sofort Hilfe angeboten werden. Damit ist die Versicherungsgesellschaft unmittelbar an der Seite der Versicherten. „Das ist uns wichtig“, betont Horst Nussbaumer.
SCHNELLER, EINFACHER, DIGITALER
Wie Zurich bei Unfallschäden künftig sofort hilft
Starke Partner im Verbund
Die Versicherungsgesellschaft erhält zudem durch die direkt und automatisch übermittelten Daten viel früher als bisher Kenntnis über Art und Ausmaß der Schäden. Dazu zählen Informationen, die eine erste Schätzung der Reparaturkosten erlauben. „So können wir die Schadenbearbeitung effizienter und zugleich deutlich günstiger gestalten“, unterstreicht Nussbaumer. Oft spart Schnelligkeit bares Geld. Das kommt nicht nur der Versicherungsgesellschaft zugute. Auch die Kunden und sämtliche Partner im Verbund wie etwa die Automobilhersteller mit ihren Vertragswerkstätten sowie Dienstleister für Abschlepp- oder Mietwagen als Ersatzfahrzeug profitieren davon.
„Ein optimales Kundenerlebnis bei der digitalen Bearbeitung von Kaskoschäden zu erzielen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Partnern, die im Gleichklang mit unseren Werten und unserem Anspruch agieren. Gelingt das, werden alle Beteiligten Mehrwerte erzielen“, sagt Nussbaumer. Da wachse gerade ein „Orchester aus Fahrzeug und dazugehörigen Dienstleistungen“ zusammen. Zwar habe Zurich sich im Schadenbereich zum Ziel gesetzt, die führende Rolle in der Branche zu übernehmen. „Es ist aber nicht unser Anspruch, immer als Dirigent zu agieren“, sagt Nussbaumer. Er ist überzeugt: „Versicherer können sich nicht generell ins Zentrum von Ökosystemen setzen.“
Geduld und Ausdauer sind bei komplexen Innovationen auch gefragt. Die Entwicklung einer perfekt funktionierenden digitalen Schadenbearbeitung sei ein langer, sich immer wieder erneuernder Prozess, eben eine Reise, kein kurzer Sprint. „Dafür“, so Nussbaumer, „müssen wir gemeinsam mit den beteiligten Partnern lernen und Schritt für Schritt gehen.“ Das Ziel sei, eine hervorragende Datenlage zu bekommen, hohe Geschwindigkeit in der Bearbeitung und Regulierung sowie große Kundennähe im gesamten Prozess vom Unfall bis zum Abschluss des Schadenfalles zu realisieren. „Im Resultat macht das den qualitativen Unterschied aus“, betont Nussbaumer.
Mehrwert im Paket
Das reine Produkt „Kraftfahrzeugversicherung“ sei weitgehend austauschbar. Jetzt müsse man die Zielgruppen finden, die dem neuen, digitalisierten Verfahren zustimmen. Die Betonung liegt auf „Gruppen“. Denn: Jeden Autoversicherungskunden einzeln anzusprechen wäre „nicht sehr zielführend“. Deshalb setzt Zurich auf Angebote im Rahmen vielfältiger Mehrwertdienste, die beim Kauf oder Leasing eines Neuwagens vom Händler gemacht werden. Drei Jahre Service inklusive? Mobilitätsgarantie? Und dazu noch digitale Schadenregulierung? Um die Verknüpfung der Angebote zu Beginn der Vertragsverhältnisse zu gewährleisten, will Zurich die Automobilhersteller eng in ihr Konzept einbinden. Nachdem das erfolgt ist, gelte es, so der COO, im nächsten Schritt alle Versicherer an einen Tisch zu bringen: „Wenn wir als Branche zusammenarbeiten, erreichen wir schnell die notwendige Standardisierung in der digitalen Kaskoschadenregulierung.“ Nussbaumers Appell: „Industrie und Versicherungswirtschaft sollten jetzt gemeinsam Gas geben.“
Die Kundensicht ist der Schlüssel zum Erfolg
Zwei Fragen an Dr. Henning Droege:
1. Welche Rolle hat Porsche Consulting beim Transformationsprozess der Zurich Gruppe Deutschland übernommen?
Wir konnten mit unserer Mobilitäts- und Digitalisierungsexpertise helfen, eine branchenübergreifende Lösung zu entwickeln, die echte Mehrwerte für die Kundinnen und Kunden der Zurich Gruppe Deutschland und für alle Beteiligten schafft. Bei der Entwicklung und Realisierung dieser innovativen Geschäftsidee kommt es darauf an, die richtigen Partner zusammenzubringen und sie mit ihren speziellen Kompetenzen sinnvoll zu vernetzen.
2. Und wie gelingt der Transfer der innovativen Geschäftsidee in die Praxis?
Wir haben die Perspektive eines Kunden eingenommen, der sich unmittelbar nach einem Unfall in einer angespannten Ausnahmesituation befindet: Welchen direkten Mehrwert kann er künftig von seiner Versicherung und deren Partnernetzwerk durch intelligente Datennutzung im Schadenfall erwarten? Unter dieser Prämisse wurde anschließend intensiv an der Identifikation, dem Fluss und vor allem der Interpretation der Daten aus den Fahrzeugen gearbeitet. Ein durchschnittlicher Neuwagen ist schon heute mit zahlreichen Sensoren ausgestattet, die Daten für eine qualifizierte Schadenmeldung liefern können. Diese elektronischen Quellen haben wir analysiert, für einen projektinternen Pilot-Crashtest mit einem typischen Fahrzeug herangezogen und dabei wertvolle Ergebnisse auswerten können. Parallel werden immer mehr Zurich-Versicherte mit ihren individuellen Anforderungen in die weitere Entwicklung mit einbezogen. Die Nähe zur Praxis ist entscheidend – das System muss überzeugen.