Mobilität

„In Europa herrscht noch die Spaltmaß-Denke“

Ein Gespräch mit den Mobilitätsexperten Professor Zheng Han und Professor Andreas Herrmann über die Wandlungsfähigkeit der Chinesen und die Zukunft der europäischen Automobilindustrie.

07/2025

Zwischen alter Automobilindustrie und Mobilität der Zukunft: Prof. Zheng Han (links) und Prof. Andreas Herrmann (rechts) sind Experten für die Transformation. Porsche Consulting traf sie zum Interview im Volkswagen-Drive-Forum in Berlin.Porsche Consulting/Marco Prosch

Die europäische Automobilindustrie steht vor einem historischen Wendepunkt. Elektromobilität, Digitalisierung und geopolitische Verschiebungen verändern die Spielregeln. Im Gespräch mit Prof. Zheng Han (Tongji-Universität, Shanghai) und Prof. Andreas Herrmann (Universität St. Gallen) diskutieren wir, wie sich europäische und chinesische Hersteller aufstellen, welche Rolle Europa künftig spielen kann – und was die Branche von China lernen sollte. Ein zentrales Thema: Geschwindigkeit. Während europäische Hersteller auf Perfektion setzen, dominieren in China kurze Entwicklungszyklen und schnelle Markteinführung.

Professor Han, wie blickt man von China aus auf das Thema Mobilität und Europa?

Prof. Zheng Han: Chinas Regierung hat schon seit Jahrzehnten Mobilität als ein strategisches Thema auserkoren. Dabei wurde die Elektromobilität als eine wichtige Industriesäule definiert – die strategische Arbeit daran trägt nun erste Früchte, insbesondere im chinesischen Binnenmarkt. Das nächste Ziel Chinas ist es, auch international erfolgreich zu werden. Dabei spielt der europäische Markt eine enorm wichtige Rolle. In der aktuellen geopolitischen Lage richtet sich der Fokus nicht auf die USA. Europa hingegen hat für chinesische Hersteller eine emotionale und strategische Bedeutung. Es ist der Geburtsort des Automobils – und ein etablierter Markt mit hohen Qualitätsstandards. Für chinesische OEMs ist es ein Prestigeprojekt, hier erfolgreich zu sein.

Der Respekt vor den Erfindern des Automobils ist also groß, aber hat Europa künftig noch eine Chance, vorne mitzuspielen?

Han: China hat in der Vergangenheit immer zum Westen aufgeblickt, gerade beim Automobil. Bei der modernen automobilen Entwicklung hat man nun aber in kurzer Zeit sehr viel Selbstvertrauen aufgebaut, auch weil es chinesischen Herstellern gelungen ist, etablierten Playern Marktanteile abzujagen. Europäische Hersteller tun sich gerade schwer, ihre Erfolgsrezepte aus der Vergangenheit in die Zukunft zu übertragen. Aber ich denke, es wäre verfrüht, Europa als abgehängt zu bezeichnen. Chinesische Hersteller finden hier auch nicht die Rahmenbedingungen, die sie im Heimatmarkt erfolgreich gemacht haben. 

Wie schätzen Sie Europas Chancen ein, Professor Herrmann?

Prof. Andreas Herrmann: Bei Batterietechnologie und autonomem Fahren müssen wir uns in Europa massiv anstrengen, um mithalten zu können. Die Skaleneffekte, die chinesische und amerikanische Anbieter bereits realisiert haben, sind enorm. Wir haben Know-how – aber keine kritische Masse. Das ist die technologische Seite. Es gibt aber auch die Komponente der Industriepolitik. Um mit den Tech-Giganten aus dem Silicon Valley mithalten zu können, bräuchten wir selbst einen Software-Giganten in Europa. Davor scheuen wir uns aber. Stattdessen haben wir eine zerfledderte Landschaft von kleineren mittelständischen Firmen. Ein Beispiel: Die EU fördert 80 Projekte mit jeweils zwei, drei autonomen Bussen – statt zwei große Leuchtturmprojekte mit 500 Fahrzeugen. Das ist homöopathisch und am Ende wirkungslos. Was wir bräuchten, wäre diese Konzentration, dieser Fokus, den wir in China und den USA erleben. Industriepolitik mit der Gießkanne ist ein riesiger Nachteil für Europa, denn in Zeiten von Disruption braucht es Leuchttürme.

Welche Stärken sehen Sie bei den europäischen Herstellern, die chinesische vielleicht nicht so schnell aufholen können?

Herrmann: Chinesische Hersteller tun sich noch schwer mit Branding und Vertrieb. Aber ich bin mir nicht sicher, wie lange dieser Vorsprung hält. Die Chinesen lernen schnell – und holen sich gezielt europäische Expertise ins Haus. Grundsätzlich habe ich keine Zweifel, dass sie bei Marketing und Vertrieb auf das europäische Niveau kommen werden.

Han: Viele chinesische Hersteller stießen in der Anfangsphase auf erhebliche Marktherausforderungen. Sie hatten die Komplexität des europäischen Vertriebs und die Kundenloyalität unterschätzt. Aber sie sind extrem lernfähig. Sie haben jetzt verstanden, was nicht funktioniert und investieren massiv in lokales Know-how – auch personell. Diese Wandlungsfähigkeit ist ein Erfolgsfaktor. 

In Deutschland auf der Autobahn unterwegs, in Shanghai mit der U-Bahn und Ride-Hailing-Services: Zheng Han und Andreas Herrmann kennen sowohl die chinesische als auch die europäische Perspektive auf die Automobilindustrie – als Wissenschaftler und aus eigener Erfahrung.Porsche Consulting/Marco Prosch

Ein Faktor, der den Europäern bisweilen abgeht. Heißt es China Speed vs. deutsche Gründlichkeit?

Han: China nutzt den Heimatmarkt als wichtiges Test- und Lernfeld. Innovationen werden dort oft frühzeitig eingeführt, erste Optimierungen erfolgen auf Basis realer Nutzungserfahrungen – bevor sie international ausgerollt werden. Um bei der Qualität auf das europäische Niveau zu kommen, brauchen die Chinesen noch ein bisschen Zeit, aber die Uhr läuft für die Europäer.

Herrmann: In Europa herrscht noch die Spaltmaß-Denke. In China zählen Software, Mut zur Innovation – und die Bereitschaft, Fehler per Over-the-Air-Update zu korrigieren.Bei der Wandlungsfähigkeit sind wir nicht sonderlich gut ausgestattet, und das liegt natürlich daran, dass diese Industrie enorm erfolgreich war, dass sie das Paradestück Europas war. Jetzt blickt die Autoindustrie mit einer gewissen Trägheit und Wehmut auf die vergangenen Zeiten zurück und bringt letztlich nicht die Kraft auf, sich neu zu erfinden.

Ist China Speed denn außerhalb von China so ohne weiteres möglich? Sind Abstriche bei Qualität und Sicherheit in Europa denkbar?

Han: In der Tat denke ich, dass chinesische Kunden deutlich offener gegenüber Risiken sind. Sie kaufen Tech-Produkte auch dann, wenn sie nicht lange erprobt wurden. In Europa sind die Konsumenten deutlich risikoaverser – gut für die europäischen Hersteller, denn sie sind bei Qualität stark. Beim Automobil ist aber auch die Digitalisierung eine wichtige Dimension. In der Hinsicht zählt nicht nur Qualität, sondern vor allem eine enorme Kundenorientierung. Und diese kundenorientierte Produktentwicklung und der Fokus auf Dienstleistungen – das können die chinesischen Unternehmen sehr gut, darin besteht auch ihr Wettbewerbsvorteil, solange sie es von der Technologie und der Qualität her noch nicht mit den Etablierten aufnehmen können. Von dieser Kundenorientierung können die Deutschen sich noch ein Stückchen abschneiden. 

Was sind noch Dinge, die die europäische Autoindustrie gerade von China lernt?

Herrmann: Neben der Entwicklungszeit und der Software-Denke statt dem Fokus auf das Spaltmaß ist es auch Schnelligkeit, was Marken anbelangt. Wahrscheinlich brauchen die großen Hersteller auch mal den Mut, neue Marken auszuprobieren. Sonst wird die Heritage irgendwann zur Belastung.

Han: Die Europäer versuchen aktuell chinesischer zu werden, beispielsweise beim Design, dem Human Machine Interface (HMI) und den digitalen Funktionalitäten. Sie müssen auch lokalisieren, um in China erfolgreich zu sein und genauso versuchen es die Chinesen umgekehrt in Europa auch zu machen. Zuletzt wurden Designer aus Europa abgeworben, um für chinesische OEMs zu arbeiten. In bestimmten Technologiebereichen – etwa bei Batterien – sind sie selbst führend und benötigen keine Expertise aus Europa. Gleichzeitig beobachten sie genau, in welchen Feldern andere Stärken haben – und holen sich gezielt internationale Top-Talente.

Ist der Zug bei manchen Technologien für die Europäer abgefahren?

Han: Wenn man die jahrzehntelange Förderung der Elektromobilität zusammennimmt, hat China am Ende des Tages mehr in diesen Bereich investiert als jede andere Nation oder Region der Welt. Das Vorgehen ähnelt in seiner Logik einem staatlich unterstützten Innovationsfonds – mit dem Ziel, frühzeitig Marktpositionen in einem strategischen Zukunftsfeld aufzubauen. 

Herrmann: Man kann natürlich Milliarden in irgendetwas stecken, aber wir kommen jetzt in eine Welt hinein, die ganz andere Economies of Scale hat. In einer Hardware-Welt gibt es hunderte Autofirmen. Da gibt es Platz für viele Anbieter und man kann mit einer oder zwei Millionen produzierter Fahrzeuge erfolgreich sein. In der softwaregetriebenen Welt sind zwei Millionen Einheiten nichts. Und wir werden auch nicht 400 autonome Fahrsysteme haben oder 400 Batteriefertiger. Die Mechaniken der Hardware-Welt gelten nicht mehr. Es gilt vielmehr „The winner takes it all.“ Darum bräuchten wir längst eine Deutschland-Allianz, zumindest bei der Software.

„In Zeiten von Disruption braucht es Leuchttürme.“ Andreas Herrmann wirbt für eine neue Industriepolitik in Europa, die Tech-Giganten ermöglicht und für Skaleneffekte sorgt.Porsche Consulting/Marco Prosch

Dem steht das europäische Kartellrecht entgegen.

Herrmann: Das mag sein, aber dann müssen wir es ändern.

Wohin entwickelt sich der globale Automobilmarkt?

Herrmann: Gefühlt war die Welt in den letzten Dekaden ein großer Markt, aber ich glaube, dass wir in eine andere Phase der Wirtschaftspolitik kommen. Trump hat damit angefangen, indem er „Fairness“ fordert. Im Kern will er eine Verlagerung der Wertschöpfung, und ich denke, das wird in den nächsten Jahren das dominierende Paradigma sein. Was China betrifft, muss man sehen, dass die Deutschen in den letzten Jahrzehnten ein Massenanbieter in China waren. Diese Rolle wird nun von den lokalen Marken übernommen, und das führt dazu, dass die deutschen Hersteller in Nischen gedrängt werden, etwa die Premiumklasse. Ich bin überzeugt, dass die deutschen Hersteller schon ihren Weg machen werden, aber die Dominanz, die wir bislang kannten, die ist sicherlich gebrochen. 

Han: Und für chinesische Hersteller ist der Erfolg in Europa nicht nur Prestige, sondern auch eine Frage des Unternehmenserfolgs. Innerhalb von China sind die Margen hauchdünn durch diesen Hyperwettbewerb.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wie sieht die Automobilindustrie in 25 Jahren aus?

Herrmann: Ich denke, das Gesamtgefüge wird sich verschoben haben zugunsten der chinesischen Hersteller. Ich glaube aber, dass es die deutschen Hersteller noch geben wird, in veränderter Form. Die werden alle ihren Platz und ihre Nische gefunden haben. Ich glaube auch, dass es in bestimmten Regionen der Welt noch Märkte für Verbrennungsmotoren geben wird. Auf der anderen Seite könnte ich mir durchaus vorstellen, dass einige Städte motorisierte individuelle Mobilität gar nicht mehr zulassen.

Han: Die Geschäftsmodelle werden sich stark verändert haben. Wofür sind die Kunden noch bereit zu bezahlen? Eine Hypothese ist, dass der Serviceanteil durch Digitalisierung wichtiger wird. Im Massenbereich wird Mobilität aber wahrscheinlich stärker Commodity sein. Ich vermute auch, dass der Privatbesitz von Autos abnehmen wird und dafür das B2B-Geschäft zunimmt. Es wird vom Ort abhängen – das sehen wir heute schon. Wenn ich geschäftlich in Shanghai bin, nutze ich entweder die U-Bahn oder Ride-Hailing-Services. Das ist wirklich einfach und schnell und spart Kosten. In Deutschland erlebe ich Mobilität ganz anders und lebe meine Leidenschaft für das Automobil aus – mit einem Elektrofahrzeug, dem Porsche Taycan. Kurze Strecken lege ich bewusst mit dem Fahrrad zurück. 

Herrmann: Bei mir hängt es auch vom Land ab. In der Schweiz nutze ich sehr stark den öffentlichen Verkehr, der ist sensationell. Darauf kann man sich verlassen und das nimmt enorm viel Stress aus dem System. In Deutschland genieße ich das Cruisen auf langen Strecken mit meinem Audi A5 mit Dieselmotor. Solche unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse wird es immer geben.

Professor Dr. Zheng Han

Porsche Consulting/Marco Prosch
ist Lehrstuhlinhaber für Innovation und Unternehmertum am Chinesisch-Deutschen Hochschulkolleg der Tongji Universität in Shanghai sowie Gastprofessor an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Der Wirtschaftsingenieur hat in Deutschland, der Schweiz, den USA und Singapur studiert und gearbeitet. Seine Forschung und Lehre konzentrieren sich auf Innovation, Unternehmertum und strategisches Management. Er hat zahlreiche Artikel in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht und lehrt in MBA-, EMBA- und Führungskräfteprogrammen an renommierteninternationalen Business Schools.

Professor Dr. Andreas Herrmann

Porsche Consulting/Marco Prosch
ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und leitet das Institut für Mobilität. Zudem ist er Visiting Professor an der London School of Economics und der Stockholm School of Economics. Herrmann hat über 15 Bücher veröffentlicht – darunter Werke zum autonomen Fahren – und mehr als 250 wissenschaftliche Aufsätze in führenden internationalen Zeitschriften verfasst. Seine Forschungsgebiete umfassen unter anderem die marktorientierte Produkt- und Preisgestaltung, Behavioral Economics und Markenmanagement. 
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