Global denken,
lokal handeln
Ein Chief Sustainability Officer packt das Thema Nachhaltigkeit anders an: Nicht noch länger reden, sondern schneller machen. Das Rückgrat bildet ein starkes Wertegerüst für verantwortungsvolles Denken und Handeln.
12/2024
Die Sonnenallee. Eine breite Hauptstraße in Berlin. Die lange Verkehrsader durchzieht Neukölln, einen Stadtteil mit multikulturellem Flair. Jedoch ist die Sonnenallee nicht unbedingt dafür bekannt, dass sich dort Topmanager zu Gesprächen verabreden. Gerade deshalb zieht es Dr. Dirk Voeste hierher. Kiez-Atmosphäre statt Konzern-Klima.
Im schmalen Hinterhof der Hausnummer 67 liegt etwas versteckt eine ehemalige Seifenfabrik. Steile Treppen hinter einer Stahltür führen in die vier Etagen. Nur für Lasten gibt es einen Aufzug. Innen verbreiten die rohen roten Backsteinwände und die rauen Decken Industriecharme längst vergangener Dekaden. Die wenigen, bewusst zusammengewürfelten Möbel sind „retro“. Benutzte Überbleibsel aus deutschen Wohnzimmern der 1950er- und 1960er-Jahre. Vielleicht ein guter Ort, um sich zu besinnen und über die Rettung der Erde zu sprechen. Kurz gesagt: zurück zu den Wurzeln.
Dirk Voeste, seit April 2023 Chief Sustainability Officer der Volkswagen Group, hat die alte Fabrik zusammen mit seinem Team ausgewählt. Für eine neue Initiative, branchenübergreifend: Hierher lud er kürzlich rund 100 Teilnehmende ein. Zum ersten Sustainability Forum des Konzerns. Sie kamen überwiegend von anderen Unternehmen und Organisationen. Dabei waren auch die Expertinnen und Experten für Nachhaltigkeit von den verschiedenen Marken des Volkswagen Konzerns. Der hochkarätige Fachkreis bleibt unter sich, keine Pressekonferenz mit Ankündigungen, keine Medien, keine Show, kein Bulletin. Es soll erst einmal miteinander gesprochen und gearbeitet werden – daran, dass auch die nächsten Generationen ein gutes Leben auf unserem Planeten führen können. Nachhaltigkeitschefs unter anderem aus der Chemieindustrie, von Energieversorgern, Zulieferern, Wissenschaft und Leute mit Expertise von Nichtregierungsorganisationen wollen wirksame Ansätze austauschen und gemeinsam den besten Weg nach vorne diskutieren. Es geht um Erfahrungen, um gute Ideen, wirkungsvolle Konzepte und deren Realisation.
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“
„Beim Thema Nachhaltigkeit sehe ich oft viele sehr gute Einzelinitiativen. Doch diese wirken oft wie alleinstehende Bäume, das ist kein zusammenhängender Wald“, sagt Voeste. Es geht darum, das Zusammenspiel, die Koordination und Vereinheitlichung geeigneter Maßnahmen zu entwickeln, möglichst weltweit. Voeste spricht hier für den gesamten Volkswagen Konzern, aber auch weit über ihn hinaus. „Was wir der Erde genommen haben, müssen wir ihr für nachfolgende Generationen zurückgeben“, lautet das Credo des Biologen Voeste. Bevor er 2023 zum Volkswagen Konzern in die Automobilindustrie wechselte, war er lange für den Chemieriesen BASF tätig. Mit den immer komplexer werdenden Herausforderungen und in der Zusammenarbeit in großen internationalen Unternehmen kennt er sich bestens aus.
Erst Chemie, dann Automobil
Was er bei Volkswagen fand, war erst einmal eine andere Form der Vielfalt: 10 Marken, 114 Standorte weltweit, von Sao Paulo bis Shanghai, rund 670.000 Mitarbeiter. „Eine der Besonderheiten dieses Konzerns ist seine Komplexität“, sagt Voeste. Trotzdem oder gerade deshalb ist die Vision und Mission des Biologen gewaltig: Im und für den Volkswagen Konzern eine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln und umsetzen. Man könnte dies angesichts der weiten Verzweigungen im Konzern als schier unmöglich ansehen, auch, weil Voeste nicht einfach etwas für alle Marken beschließen kann. Das will er auch gar nicht.
Aber Voeste sieht konkrete Chancen, die er nutzen möchte: „In jeder Marke, an jedem Standort sind enorme Kompetenzen vorhanden. Wenn alle sich gegenseitig inspirieren und voranbringen, dann kann daraus etwas Großes entstehen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Es darf nicht darum gehen, allen etwas überzustülpen. Es muss ein Mehrwert für alle entstehen.“ Sieht er sich in seiner Rolle als Dirigent? „Oh, nein“, kommt blitzschnell die Antwort. Er versteht sich in dem Weltunternehmen vielmehr in der Rolle des „Integrators“: Menschen und Ideen zusammenführen, voneinander lernen, gemeinsam an den Zielen arbeiten, neue Wege ausprobieren und sich weiterentwickeln. Das sei das Rezept zum Erfolg, so Voeste. Klar, eine erste, übergeordnete Nachhaltigkeitsstrategie hat Voeste im kleinen Kreis entwickelt, doch das Entwicklungsteam ist schnell größer geworden. „Anfangs waren wir zu dritt und haben dem Vorstand in engen Abständen präsentiert und mit ihm diskutiert. Einige Wochen später waren in einer Videokonferenz schon mehr als 80 Kolleginnen und Kollegen aus dem gesamten Konzern und den Marken“, erzählt Voeste.
Ein weites Spektrum mit elf Feldern
Herausgekommen ist die Nachhaltigkeitsstrategie „regenerate+“. Sie setzt unter anderem auch auf systematische Steuerbarkeit und Messbarkeit. Denn erst so können Ziele gesetzt und der Erfolg von getroffenen Maßnahmen auch nachgehalten werden. Deshalb wurden für regenerate+ zunächst zwölf Leistungskennzahlen festgelegt. Darunter etwa die Reduktion des Kohlendioxidausstoßes. Die Produktion soll bei Volkswagen im Jahr 2040 bilanziell CO₂-neutral sein. Zehn Jahre früher als geplant. Und bei Neuwagen in Europa und den USA soll der Anteil der recycelten Materialien aus der Kreislaufwirtschaft bis 2040 auf 40 Prozent steigen.
regenerate+ umfasst vier Dimensionen: unsere Belegschaft, Gesellschaft, Natur und Business. Innerhalb dieser vier Dimensionen wurden insgesamt elf Handlungsfelder ermittelt, die von der Gesundheit der Mitarbeiter über Biodiversität bis hin zum Verkauf von Elektrofahrzeugen reichen und bei denen der Konzern und seine Marken aktiv wesentliche Verbesserungen bewirken können. Eine Messbarkeit zu schaffen, ist dabei nicht immer leicht. Für die Biodiversität schlagen Wissenschaftler teilweise einige Hundert Kriterien vor, die von Flächen über den Wasserhaushalt bis hin zur genauen Erfassung der Tiere und Pflanzen gehen. Voeste und sein Team suchen nach übergeordneten Möglichkeiten wie der Analyse von Satellitenaufnahmen, um etwa die Bodenbeschaffenheit zu analysieren. „Aber jeder Standort braucht auch eine gewisse Handlungsfreiheit, um sich an die regionalen Unterschiede und Gegebenheiten anzupassen“, betont Voeste. Global denken und lokal handeln ist der Schlüssel zum Erfolg.
Um alle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, alle Chancen und Hindernisse besser zu verstehen, möchten Voeste und sein Team bei ihrem neuen Sustainability Forum vor allem eines: zuhören, zuhören, zuhören. „Nachhaltigkeit ist im gesamten Unternehmen unser zentrales Wertegerüst für verantwortliches Handeln“, betonte Oliver Blume, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, im Gespräch mit der deutschen Tageszeitung „Welt“. Mit dieser Priorität setzt er ein besonderes Zeichen. Denn bei vielen Konzernen werde die Nachhaltigkeitsstrategie noch immer eher als eine Art Zusatz zu der Konzernstrategie gesehen und präsentiert, so Voeste.
Operation hat Priorität
Trotz der aktuellen wirtschaftlichen Lage sollen für die Strategie regenerate+ in den kommenden Jahren auch finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. So startet 2025 ein Biodiversitätsfonds, um vielversprechende externe Projekte mit insgesamt bis zu 25 Millionen Euro zu unterstützen. Im gleichen Jahr wird außerdem ein Sustainability-Impact-Fonds mit bis zu 20 Millionen Euro aufgelegt, um weitere Nachhaltigkeitsprojekte zu fördern. Mitarbeitende von Volkswagen können hierfür geeignete Projekte vorschlagen, die dann finanziell unterstützt werden. Genauso gefällt operative Nachhaltigkeitsarbeit dem Integrator Voeste. Denn das alles unterstützt den ihm so wichtigen Austausch. Das ist auch das Ziel des neuen Sustainability Forums. Deshalb soll es keine einmalige Veranstaltung bleiben, sondern künftig jährlich stattfinden.
Für weiteren Dialog wird der im Herbst 2024 umgestaltete Nachhaltigkeitsbeirat des Volkswagen Konzerns sorgen. Hier beschreitet das Unternehmen neue Wege: Der Beirat besteht aus vier Gremien. Für jede Dimension gibt es ein Gremium. Darin erarbeiten drei externe und drei interne Experten gemeinsam konkrete Vorschläge in den jeweiligen Themengebieten. Danach stellen sie ihre Resultate den zuständigen Gremien und den Verantwortlichen im Konzern und bei den Marken der Volkswagen Group vor. So werden Ideen und Hinweise schnell an die zuständigen Fachbereiche weitergegeben. Der Beirat berichtet in Abstimmung mit Dirk Voeste an den Konzernvorstand. Die Auswahl der Mitglieder von extern und intern waren Voeste besonders wichtig. „Das fördert einen kritisch-konstruktiven Dialog“, sagt er zur Begründung seiner Intention, „und genau den brauchen wir mehr denn je, um Themen und konkrete Maßnahmen voranzutreiben.“
Bei allem Austausch verliert Voeste nicht den Blick auf die Geschwindigkeit in der Umsetzung. Wenn eine Erkenntnis da ist, wird gleich vereinbart, wie und bis wann das aus ihr Folgende realisiert wird. Trotzdem weiß er, dass vieles von dem, was heute getan wird, erst einige Zeit später Wirksamkeit zeigen kann. „Es heißt auch: Wir pflanzen die Bäume, deren Schatten wir selbst nicht mehr erleben können“, sagt Voeste. Der Biologe, der Bäume gern als Symbol setzt. Deshalb sei es so wichtig, jetzt aktiv zu werden. Und geschickt Impulse zu setzen, damit die Dinge Fahrt aufnehmen. Das passt zu seinem Motto: Inspire your environment. Inspiriere dein Umfeld. Wenn sich dann Zusammenarbeit und eine Eigendynamik entwickelt, ist er zufrieden: „Wenn ich zum Beispiel höre, dass zwei unserer Konzernmarken sich aus eigener Initiative heraus zur Nachhaltigkeitsstrategie abgestimmt haben, dann ist das für mich das Schönste“, sagt Voeste.
Neulich hatte er ein Konzeptpapier für nachhaltiges Wirtschaften in Bezug auf Rohstoffe in der Hand. Erarbeitet von Kollegen mehrerer Marken – für den ganzen Konzern. „Das Papier war fast fertig. Ich habe weder daran mitgearbeitet, noch habe ich es in Auftrag gegeben. Da wusste ich: Wir sind auf dem richtigen Weg“, erzählt Voeste, der Integrator. Und bei gelungener Integration läuft so manches eben „wie von selbst“.