„Flexibilität bringt
den Erfolg“
Für Jaguar Land Rover am Werk: Barbara Bergmeier, Executive Director of Industrial Operations und Dr. Heiko Gierhardt, Director Material Fulfilment.
01/2025
Topmanagerin Barbara Bergmeier orchestriert als Executive Director of Industrial Operations das gesamte Ökosystem der Fahrzeugproduktion von Jaguar Land Rover. Ihr Verantwortungsgebiet reicht von der Fertigung über den Einkauf bis hinein in die Lieferkette. Unterstützt wird sie von Dr. Heiko Gierhardt, der als Director Material Fulfilment die Supply Chain und die Teileversorgung der Werke verantwortet. Im exklusiven Interview mit dem Porsche Consulting Magazin sprechen die beiden über Herausforderungen der Automobilindustrie, gefährdete Lieferketten und die Bedeutung der Flexibilität in Zeiten des Wandels zur Elektromobilität. In Diversität, Inklusion und der Offenheit des britisch-indischen Weltkonzerns sehen sie den Schlüssel für eine gesunde Teamkultur, mehr Wettbewerbsfähigkeit und Innovation.
Frau Bergmeier, was macht eine Luftfahrtexpertin bei Jaguar Land Rover (JLR)? Fliegen Ihre Autos so tief?
Bergmeier: (lacht) Ich habe mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Automobilindustrie und war zwischendurch dreieinhalb Jahre bei Airbus. Deswegen ist „Luftfahrtexpertin“ vielleicht etwas hoch gegriffen. Ich wollte mal eine andere Industrie kennenlernen. Besonders interessant fand ich, in einem industriellen Ökosystem zu arbeiten. Damals dachte die Autoindustrie noch viel in der klassischen Supply Chain: Einer ist der Lieferant, der andere der Autohersteller.
Erklären Sie uns den Unterschied?
Bergmeier: Im Verteidigungs- und Raumfahrtbereich ist das anders: Da gibt es Partner, die mal Kunden, mal Zulieferer sind. Dieses Geflecht an Geschäftsbeziehungen war aufschlussreich. Da habe ich viel gelernt.
Den Netzwerkgedanken haben Sie dann mit in die Autoindustrie gebracht und die strenge Hierarchie abgelöst?
Bergmeier: Ja, wenn Sie so wollen. Das ist Teil meiner persönlichen Philosophie: Ein gutes Lieferantenverhältnis ist wichtig für eine wettbewerbsfähige Basis. Da war das Ökosystem Luftfahrt schon innovativer als der Autobereich.
Herr Gierhardt, Sie sind ein reiner Automann?
Gierhardt: Ja, ich bin ein gelernter Automensch, allerdings mit einem Jahr Seefahrt-Erfahrung bei der Bundesmarine. Und ich bin Ingenieur, war bei BMW und dann bei Porsche und VW. Jetzt hat es mich auf die Insel verschlagen und ich mache für Jaguar Land Rover die Supply Chain und die Teileversorgung in die Werke.
JLR ist ja ein sehr internationales Unternehmen, gehört zur indischen Tata Group. Wie ist es für Sie als Deutsche, hier in England zu arbeiten?
Gierhardt: Es ist vor allen Dingen sehr vielfältig. In meinem Bereich arbeiten über 40 Nationen mit verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen. Im Zusammenspiel ist das ungeheuer stark und facettenreich. Die deutsche Sprachpräzision geht einem zwar ab, aber man lernt dadurch kulturell immens dazu. Zum Beispiel die „Britishness“, diese gewisse Lockerheit, die einem im Berufsleben auf der Insel unheimlich hilft. Das ist etwas sehr Schönes.
Was macht die Briten so locker?
Gierhardt: In Krisensituationen greifen hier plötzlich ganz viele Rädchen ineinander. Man geht an alles mit einer Wir-schaffen-das-Mentalität heran. Das ist eine immense Stärke der Briten. Keep calm and carry on. Und wenn man das paart mit der deutschen Art, Dinge bis ins letzte Detail gut zu machen, dann kommt dabei viel Qualität heraus. Es ist genau diese Vielfältigkeit, die das Arbeiten hier so spannend macht.
Und was sind Ihre Eindrücke von England, Frau Bergmeier?
Bergmeier: Es regnet oft (lacht) und das Essen schmeckt wirklich viel besser, als man in Deutschland denkt. Da muss man mit Vorurteilen aufräumen. Was mir aber besonders gefällt, ist die Offenheit und Diversität. Wenn man in London unterwegs ist, gibt es nichts, was es nicht gibt. Und wir bei JLR versuchen uns – was Inklusion und Diversity angeht – stark zu engagieren. Viel mehr, als ich das bisher gewohnt war …
… das kann man sehen, wenn man die jüngste Jaguar-Werbekampagne betrachtet: sehr bunt, sehr laut, sehr anders – und man sieht keine Autos. Wie finden Sie die?
Bergmeier: Sehr gut! Und man sieht keine Autos, weil es die zu dem Zeitpunkt schlicht noch nicht gab. Wir haben zuerst die Marke enthüllt und zwei Wochen später den Jaguar Type 00 in Miami als Designvision und Vorbote für die zukünftigen Serienmodelle: Es war unglaublich, wie viele Reaktionen es auf New Jaguar gab. Jetzt geht es darum, unser Unternehmen auf die neue Strategie und die E-Mobilität auszurichten, um dann Ende 2026 den ersten neuen Jaguar einzuführen. Insgesamt investieren wir in den nächsten Jahren 18 Milliarden Pfund in die Elektrifizierung unserer Marken. Aber zurück zu Jaguar: Es ist ein mutiger Schritt, den wir gehen, denn wir müssen neue Kunden ansprechen – Unternehmer und Persönlichkeiten, die anders denken, die schönes Design schätzen und sich für besondere Autos begeistern.
Wenn bis 2026 die Bänder stillstehen: Was macht eine Operations-Chefin, wenn keine Autos gebaut werden?
Bergmeier: (lacht) Na ja: Range Rover, Defender und Discovery produzieren weiter. Und die Umstellung auf Batteriefahrzeuge erfordert natürlich eine völlige Neuaufstellung. Unzählige Montagelinien müssen neu aufgebaut werden. Wir haben schon 20.000 Mitarbeitende für die E-Mobilität geschult. Denn bis 2030 werden alle unsere Fahrzeuge im Konzern auch elektrisch verfügbar sein.
Und auch bei dieser Umstellung hilft Vielfalt?
Bergmeier: Ich glaube einfach, dass eine gesunde Teamkultur erst durch Inklusion und Gleichheit entsteht. Damit sind wir deutlich wettbewerbsfähiger, haben mehr Innovationen und steigern letztlich die Teamleistung. Diese Vielfalt liegt mir. Das fühlt sich hier sehr gut an.
Klingt tatsächlich so, als ob das einer der Standortvorteile von England wäre.
Gierhardt: Ich sehe in der Vielfältigkeit und Diversität sogar den entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Man denkt hier nicht in engen Bahnen, ist freier. Und das macht Barbara und mir ungeheuer Spaß – nicht nur wirtschaftlich.
Was ist der deutsche Beitrag in diesem multikulturellen System?
Bergmeier: Meine persönlichen Beiträge sind Disziplin und Führung. Die sind für Produktion und Lieferkette extrem wichtig. Und das verkörpere ich auch persönlich. Das wertebasierte Führen ist mein Input. Disziplin und Pünktlichkeit. Ich sage immer, wenn einer eine Minute zu spät kommt, halb im Spaß: „1 Minute = 1 Auto.“ Denn wenn am Band jemand eine Minute Verspätung hat, steht alles. Und diesen Gedanken trage ich in die Teams.
Und funktioniert das?
Bergmeier: In meinem Bereich funktioniert das sehr gut. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir hier zwei, drei Deutsche sind.
Gierhardt: (lacht) Wir helfen alle mit.
Bergmeier: Aber auch unsere englischen Kollegen wissen, dass Disziplin im Automobilbau sehr wichtig ist. Im Kreativbereich, etwa im Design, gibt es sicher andere Schwerpunkte als Struktur und Pünktlichkeit. Aber im operativen Bereich sind die entscheidend.
Gierhardt: Sagen, was man macht, und machen, was man sagt, ist etwas sehr Deutsches.
Was sind denn die größten Herausforderungen hier in England?
Bergmeier: Wir sind eine britische Marke, auch wenn wir sehr international aufgestellt sind. Bei uns geht es schon um die klassischen Fragen: Wie schaffen wir unsere Stückzahlen? Wie schaffen wir es, stabile Lieferketten zu haben? Wie gehen wir unseren Weg von Premium zu Modern Luxury weiter? In den letzten zwei Jahren sind wir gut vorangekommen, haben uns durch starke Ergebnisse einigen Raum erarbeitet und können jetzt die Transformation weiter vorantreiben.
Gierhardt: Aus Sicht des Beschaffers ist natürlich die Transformation zum Elektroantrieb mit einer komplett neuen Lieferkette eine enorme Herausforderung. Die erfordert viel Flexibilität – auch angesichts der geopolitischen Lage. Und dann kommen noch Umweltereignisse dazu: Fluten, Unwetter – you name it. Wir müssen die Themen frühzeitig erkennen und lösen. Wir wollen da Benchmark sein in unseren Prozessen – und zwar für die ganze Industrie.
Ein ehrgeiziges Ziel. Was haben Sie in den vergangenen Jahren verändert, um es zu erreichen?
Bergmeier: Ich bin eine überzeugte Verfechterin des End-to-End-Ansatzes. Von der Supply Chain über unsere Lieferanten bis zur Auslieferung. Es gibt kein Silodenken mehr. Die Kraft liegt im Zusammenspiel. Mal unterstützen wir unsere Zulieferer aktiv, mal lernen wir aber auch von unseren Lieferanten, profitieren von deren Innovationen. Die Summe der Erfahrungen ergibt mehr, als jeder Einzelne allein leisten könnte. So lösen wir viele Probleme, bevor sie ein Fall für den Vorstand werden.
Das müssen Sie uns erklären …
Bergmeier: Früher, als ich noch in Organisationen mit ganz klassischem Einkauf gearbeitet habe, wurden Problemlösungen immer alle im Vorstand besprochen und entschieden. Mein Anspruch ans Team ist, dass wir vorher handeln. Wir haben wöchentliche Calls mit unseren wichtigsten Lieferanten, in denen jeder seine Situation kurz vorstellt, um Transparenz im ganzen Ökosystem zu schaffen.
Gierhardt: Wenn man von End to End denkt, schafft das mehr Verantwortung. Die Komplexität ist gestiegen und nicht mehr mit der Vergangenheit zu vergleichen. Ein fehlendes Teil hat Einfluss auf den ganzen Produktionsprozess. Und ich muss in solchen Fällen den optimalen Kompromiss für das Gesamtsystem finden – von der Beschaffung bis zur Auslieferung. Die Lieferkette geht für mich bis zum Endkunden, bis zum Ersatzteil, das er irgendwann einmal braucht. Fabrik und Handel, einfach alle, müssen sich untereinander abstimmen.
Wie schaffen Sie es, Mitarbeitende, die bisher nur über die günstigsten Konditionen nachgedacht haben, zu motivieren, im End-to-End-Modell weit in die Zukunft zu denken?
Gierhardt: Das ist eine Führungsaufgabe. Man muss das vorleben und es zu seinem Thema machen. Jeder muss spüren: Der kümmert sich da selbst drum. Man muss alle mitnehmen, ständig Feedback geben: Das war gut, das war schlecht. Das ist ein niemals endender Weg.
Funktioniert das auch in Richtung Lieferanten?
Bergmeier: Auch unsere Zulieferer haben den Ansatz inzwischen verstanden. Jeder kann ein Problem haben und wird dann von allen bei der Lösung unterstützt. Aber meine Bedingung ist: volle Transparenz und aktives Anzeigen von Problemen. Und das machen unsere Partner auch. Die halten mit ihren Schwierigkeiten nicht hinterm Berg. Wenn man früh nach Risiken scannt, kann man sie beheben, bevor sie zu Problemen werden. Das haben wir in den letzten zwei, drei Jahren erlebt. Ich hätte mir vor ein paar Jahren die aktuelle Realität nicht in meinen wildesten Träumen ausmalen können: von dem Schiffsunglück an der Baltimore Bridge, durch das sich unsere Fahrzeuge zum Quartalsende auf den Schiffen gestaut haben, und Überflutungen in Osteuropa oder der Schweiz, die wichtige Lieferanten getroffen haben, über Erdbeben bis hin zu Cybersecurity-Themen. Da sind Transparenz, Analyse und gemeinsames Bearbeiten von Risiken mit dem geballten Expertenwissen der kompletten Wertschöpfungskette wichtiger denn je.
Transparenz, Expertenwissen und Verantwortung sind also die zentralen Begriffe?
Bergmeier: Aus der gemeinsamen Bewältigung von Problemen entsteht Vertrauen. Ich glaube, wir haben ein extrem gutes Verhältnis zu unseren Zulieferern.
Was sind denn die wichtigsten Probleme, mit denen Sie gerade konfrontiert werden?
Bergmeier: Eine Herausforderung ist sicher, wandlungsfähig und flexibel zu bleiben. Wir wissen nicht, wie sich die Märkte gerade in Sachen E-Mobilität entwickeln werden. Die Flexibelsten werden deswegen die Erfolgreichsten sein. Das gilt nicht nur für unsere eigene Produktion, sondern auch für alle in der Lieferkette. Und die zweite große Herausforderung ist unsere Wettbewerbsfähigkeit. Seit 34 Jahren verfolgt mich dieses Thema, egal ob es um Materialkosten oder Herstellungskosten geht. Und dann sind da noch, wie schon gesagt, die Naturkatastrophen, die heute viel häufiger Einfluss auf unsere Lieferkette haben. Aber dafür ist Heiko zuständig …
… der Wetterverantwortliche?
Gierhardt: (lacht) Eher der, der dafür zuständig ist, was passiert, wenn wir Wetter haben. Wir scannen heute die Weltlage mit Hilfe von KI. Bei den jüngsten Überschwemmungen in Osteuropa haben wir beispielsweise am Sonntag die Wettermeldungen bekommen und hatten schnell ein gutes Lagebild, konnten dann am Montag gezielt Informationen einholen und bereits nachmittags verstehen, welche Auswirkungen das auf unser Geschäft haben kann. Wir nutzen gezielt die jeweiligen KI-Werkzeuge. In der Lieferkette ist oft das entscheidend, was ich noch nicht weiß. Was ist die nächste Chipkrise? Was ist das nächste größere Problem? Wir erkennen Muster im Lieferanten-Netzwerk, die zu Problemen führen können. Und die sichern wir dann ab.
Wie im Rennsport, wo man an den Fahrzeugdaten sieht, dass etwas passiert, bevor es passiert?
Gierhardt: Genau. Wir haben unendlich viele Datenpunkte. Und da das Richtige herauszulesen, ist die eigentliche Herausforderung. Das Grundrauschen muss man beherrschen, um dann bei den Spezialfällen flexibel genug zu sein. Und da haben wir in den vergangenen zwei Jahren enorme Fortschritte gemacht – auch mit Hilfe von Porsche Consulting.
Bergmeier: Wir müssen über die möglichen Risiken Transparenz herstellen. Und das geht nicht erst in der Lieferkette los, sondern bereits in der Entwicklung. Wir müssen bei Problemen eines Lieferanten jederzeit wissen, welche Fahrzeugbereiche davon betroffen sind. Das war vor der Halbleiterkrise noch nicht der Fall und deswegen teuer. Aber wir haben gelernt. Ziel ist, das gesamte Ökosystem bis 2026 in Echtzeit digital abzubilden. Wir nutzen da auch viele Kompetenzen von Schwesterunternehmen aus der Tata-Familie. Das gibt uns Möglichkeiten, die andere Hersteller nicht haben.
Ihre Konzernmutter Tata Group stellt neben Autos auch Arzneimittel, Metalle und weitere Produkte her …
Bergmeier: Richtig! Wir sind eng vernetzt mit vielen Tata-Unternehmen. Da arbeiten wir Hand in Hand. Und darauf sind wir sehr stolz. Tata hat insgesamt mehr als 365 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung. Die Möglichkeiten dieses Unternehmensverbundes waren einer der Gründe, wieso ich zu JLR gegangen bin.
Der Stahl geht Ihnen also nie aus?
Bergmeier: Und selbst wenn: Mit Tata Steel haben wir Zugriff auf Experten und Logistikteams, mit denen wir auch unseren Lieferanten helfen können. Aber Tata hat auch rund 700.000 IT-Experten weltweit, eigene Logistikdienstleister, Engineering- und Elektronik-Spezialisten. Selbst beim Thema Batterie ist Tata gut aufgestellt.
Die Zeiten sind unruhiger geworden: Kann man sich gegen all die Krisen überhaupt wappnen?
Gierhardt: Grundsätzlich gilt: Bestand entspannt!
Aber er kostet auch!
Gierhardt: Da haben Sie recht. Und auch ich bin kein Freund übermäßiger Lagerhaltung. Man kann nicht alle Teile einlagern, weil es inzwischen so viele Varianten gibt. Die Lagerkapazitäten müssten fast unendlich sein. Aber auch hier hilft Transparenz. Wenn ich eine Situation verstehe, kann ich Probleme lösen, bevor sie entstehen. Wenn ich zum Beispiel weiß, wie die Chipindustrie produziert, kann ich mich entsprechend vorbereiten. Wenn ich meine Maschine genau kenne, kann ich die Schwachstellen absichern. Transparenz und Speed in der Problemlösung – das ist unser Ansatz.
Bergmeier: Als ich vor 34 Jahren angefangen habe, sind die Lieferketten noch maximal ausgereizt worden. Es ging um die niedrigsten Kosten, JIS-Reichweiten (Just in Sequence) spielten eine große Rolle. Heute geht es um Risikominimierung und geopolitische Gefahren. Natürlich sind Kosten immer noch wichtig. Aber wenn man wegen erhöhter Risiken dann mal eine Woche Stillstand hat, wiegt das einiges auf.
Können Sie für jedes einzelne Teil die Risikokosten beziffern?
Gierhardt: Das ist das Ziel, aber so weit sind wir noch nicht. Wir betrachten momentan die Gesamtlage und bewerten die Risiken. Und irgendwann können wir das in Pfund und Pence übersetzen.
Bergmeier: Wir betrachten immer wieder einzelne Risiken und diskutieren mit unserer Finanzabteilung, ob und wie wir dagegen Vorsorge treffen können und wollen. Oft erkennt man erst in der Diskussion mit anderen Abteilungen, was die Risiken bedeuten und welche Lösungen es geben könnte.
Gierhardt: Und wir berichten wöchentlich, welches Versorgungsrisiko wir haben und was das mit den geplanten Stückzahlen macht. Wir sehen dann, was wir sicher haben, und sind genötigt, Vorschläge zu bringen für das, was wir nicht sicher haben. Und dann berechnen wir die Kosten und rechnen sie gegen die möglichen Einnahmen und Gewinne. Das ist eine ganz andere Diskussion als noch vor wenigen Jahren.
Bergmeier: Ein Beispiel: In der Halbleiterkrise haben wir in einem Quartal 30.000 Autos weniger gebaut als geplant. Daher wissen wir jetzt, was uns das kostet. Und das kann man dann mit KI und gesundem Menschenverstand auf andere Szenarien umrechnen. Aber am Ende muss man dann auch mal ganz pragmatisch entscheiden. Denn wenn so viele superintelligente Menschen und Systeme am Werk sind, dann ist am Ende zwar alles gesagt, aber noch nichts beschlossen.
Und wie entscheiden Sie dann?
Bergmeier: Nach all den Jahren habe ich schon einen gewissen Instinkt und entscheide trotz aller Tools auch mal aus dem Bauch heraus. Es gibt oft viele Daten, deren Bedeutung und Wirkung nicht völlig klar ist. Und nicht zu entscheiden, ist oft die schlechteste Lösung.
Gierhardt: Das ist dann ein „Just do it“-Moment!
Bergmeier: Du sagst dann immer: „So what?“
Gierhardt: Das stimmt!
Früher musste man die Autowelt verstehen, um erfolgreich zu sein. Muss man heute die ganze Welt verstehen?
Bergmeier: Ja, das kann man so sagen. Oft schicke ich Heiko eine Nachricht und frage: „Hast Du das schon gehört?“
Gierhardt: Und meistens sage ich: „Ja!“ Wir sind sehr gut darin geworden, die Welt im Blick zu haben.
Haben Sie einen Jaguar-Kontrollraum, in dem Sie wie bei James Bond die Welt überwachen?
Gierhardt: Das ist unser Supply Chain Tower. Ein eigener Raum, in dem alle relevanten Partner zusammenarbeiten. Vom AI-Team über das Engineering bis hin zu den Lieferanten in aller Welt. Es ist das Zusammenspiel aller, das zählt.
Kann man sagen, um wie viel schneller Sie beim Problemlösen geworden sind?
Gierhardt: Wir messen das nicht. Aber wenn man sonntags was erfährt und am Montagmorgen schon die richtigen Entscheidungen treffen kann, dann ist man sehr schnell.
Bergmeier: Die Erfolgreichsten werden die sein, die am wandlungsfähigsten und flexibelsten sind. Das ist mein Mantra. Das habe ich schon früh in meiner Laufbahn gelernt.
Und wie ist die Zuliefererstruktur in England nach dem Sterben der britischen Autoindustrie?
Bergmeier: Wir haben stabile Beziehungen. Aber es gibt hier noch Lieferanten, die nur an uns liefern, also sehr abhängig sind. Das kannte ich so aus Deutschland nicht. Aber wir arbeiten auch intensiv mit deutschen Zulieferern zusammen. Ein bisschen Deutschland steckt also in jedem Jaguar und Land Rover drin.
Gierhardt: Ich verbringe viel Zeit bei deutschen Zulieferern. Da bin ich dann ein kultureller Botschafter für Großbritannien.
Wird JLR trotz Brexit dauerhaft in UK bleiben?
Gierhardt: Vom Brexit spüren wir im Produktionsalltag wenig, wenn man von den Dienstreisen nach Europa absieht, bei denen die britischen Kollegen jetzt lange Schlange stehen müssen.
Bergmeier: Speziell, wenn es um das Design und die Marke geht, ist die „Britishness“ für uns sehr wichtig. Und hier in Großbritannien liegt nun mal ein Großteil unseres industriepolitischen Potenzials. Es gibt ein klares Bekenntnis der Familie Tata zu Großbritannien. Wir sind inzwischen vermutlich der größte Industrie-Arbeitgeber des Landes.
Frau Bergmeier, was vermissen Sie als Bayerin in England am meisten?
Bergmeier: Eine gute Brezel. Die sind in London ein bisschen knautschiger als zu Hause in München.
Und Sie, Herr Gierhardt?
Gierhardt: Ich bin Hesse. Also Handkäs und ein Äppler. Der geht mir ab. Aber eigentlich haben wir uns gut eingelebt.
Und angesichts Ihrer beiden sehr unterschiedlichen Marken: eher kurvige Landstraße oder Gelände?
Bergmeier: Vor drei Jahren hätte ich noch gesagt, es geht nichts über eine kurvige Passstraße. Aber inzwischen bin ich ein Offroad-Mensch geworden. Wenn ich offroad fahre, bin ich überzeugt, die beste Fahrerin zu sein, weil der Defender fast alles selbst macht.
Gierhardt: Bei mir ist die Sache klar: Passstraße und ein alter E-Type.
Ein alter E-Type?
Gierhardt: Das ist die Identität der Marke. Eine Ikone. Und darauf bauen wir die Marke Jaguar jetzt wieder auf.
Frau Bergmeier, vermissen Sie denn manchmal die Luftfahrt?
Bergmeier: Immer, wenn ich in ein Flugzeug einsteige, hoffe ich, dass es ein Airbus ist. Und die Qualitätskultur, etwa in der Raumfahrt, ist faszinierend. Aber ich würde nicht sagen, dass ich was vermisse. Ich gehöre schon in die Autowelt.