Digitale Schiene:
Hitachi wählt Deutschland als Vorbild
Mitte 2024 übernahm Hitachi Rail den Geschäftsbereich Ground Transportation Systems (GTS) von der Thales Group. Wert: 1,66 Milliarden Euro. Mit dem Zukauf des Spezialisten für Signalsysteme der Bahn setzten sich die Japaner als Vollsortimenter an die Spitze des globalen Mobilitätssektors. Die Strategie: Der schwierigste Markt hat Vorrang.
10/2025

Die Kritik am deutschen Bahnsystem hat eine lange Tradition. Ob im Personenverkehr oder im Güterverkehr – überall geht es um mehr Zuverlässigkeit und mehr Kundenorientierung. Nun hat der japanische Konzern Hitachi sich Deutschland als Vorbild für hochmodernen Schienenverkehr der Zukunft ausgeguckt. Und Hitachi ist bereit, maßgeblich daran mitzuarbeiten, dieses herausfordernde Ziel zu erreichen.
Ausgerechnet Deutschland. Warum? „Deutschlands Bahnsystem ist hochkomplex. Als europäische Transitzone ist es längst an der Belastungsgrenze angekommen. Zudem wurde es über viele Jahrzehnte nicht nur technologisch vernachlässigt“, sagt Markus Fritz, Vice President Markets Germany & Global Account Manager Deutsche Bahn bei Hitachi. Darin liegt für den international erfahrenen Diplom-Ingenieur und gelernten Energieelektroniker der besondere Reiz: „Wenn wir es schaffen, Deutschland einen modernen Schienenverkehr zu geben, dann werden andere Nationen dem Vorbild folgen.“
„Wenn“ ist die Einschränkung. Und mit der muss auch Markus Fritz leben. Er engagiert sich zugleich im Präsidium des Verbands der Bahnindustrie in Deutschland. Und er hat längst erkannt: Statt unrealistischer und unbezahlbarer Totalmodernisierung in einem Block und mit Hochgeschwindigkeit braucht es jetzt kleinere, finanzierbare Schritte in die richtige Richtung. Heißt: Konsequente, kontinuierliche Vorbereitung auf die Technik der Zukunft. Zielführende Entscheidungen. Und relativ langer Atem.

Hitachi. Porsche Consulting/Jörg Eberl
Fortschritt fordert Geduld
Nach schnellem Geschäft sieht das nicht aus. Das ist auch der Zentrale von Hitachi in Tokio klar, wo man sich Deutschland „als weltweit größten zugänglichen Bahnmarkt“ ausgeguckt hat. Die Kalkulation setzt auf Langfristigkeit und Vollsortiment: Zurzeit liefert Hitachi Rail Leit- und Sicherungstechnik. Aber der Konzern hat auch leistungsstarke Züge im Portfolio. Zum Beispiel den ETR 1000 – bis zu 360 Kilometer pro Stunde schnell und ausgelegt für den grenzüberschreitenden Verkehr. In Italien, Frankreich und Spanien rollt er schon. In Deutschland hingegen übt sich Hitachi Rail in Geduld, baut mit am System Bahn, mit dem Ziel, Kunden, wie der Deutschen Bahn, eines Tages technologische Infrastruktur und Schienenfahrzeuge aus einer Hand liefern zu können.
Das Unternehmen
Was künftig Realität sein kann, sollen Erprobungen schon heute zeigen. So bringt Hitachi Rail gemeinsam mit DB Cargo und Partnern wie Knorr-Bremse Europas erste automatisierte Güterlok auf die Schiene. Als Teststrecke dient die 2007 fertiggestellte niederländische Betuweroute, eine 160 Kilometer lange separate Güterlinie, gebaut für den Seehafenhinterlandverkehr. Die Betuweroute verbindet den wichtigen Welthafen Rotterdam mit dem deutsch-niederländischen Grenzort Zevenaar – als Anschluss zum innereuropäischen Transportnetz. Der Korridor entlastet den Straßengütertransport über stark frequentierte Autobahnen.
Für das aktuelle Pilotprojekt wurde erstmals eine Lokomotive von DB Cargo mit modernster ATO- (Automatic Train Operation) und RTO-Technologie (Remote Train Operation) ausgestattet. Ziel ist es, automatisierte Fahrfunktionen unter realen Bedingungen zu erproben und die Grundlage für ein serienreifes, marktfähiges Produkt im automatisierten Güterverkehr zu schaffen. Vereinfacht gesagt: Autonome Lokomotiven brauchen dann keine Menschen als Lokführer mehr. Das gilt als ein Meilenstein auf dem Weg zu einem automatisierten, vernetzten und leistungsfähigeren Güterverkehr in Europa. Als Technologiepartner liefert Hitachi Rail das ATO-Onboard-System und übernimmt die Systemintegration. Fritz: „Damit unterstreichen wir erneut unsere Rolle als Vorreiter für digitale Innovationen im Bahnsektor.” Hitachi Rail will damit eines der wichtigsten verkehrspolitischen Ziele Europas unterstützen: Mehr Güter auf die Schiene.

Doch zurück zum Status quo: Wie der Weg zur volldigitalisierten Bahn in kleinen Schritten in der Realität aussehen wird, zeigt das Beispiel einer Vorzeigestrecke der Deutschen Bahn. Es ist die Metropolverbindung zwischen dem Welthafen Hamburg und der Hauptstadt Berlin. Eine Magistrale zwischen wichtigen Knotenpunkten im Schienennetz. Seit der Eröffnung der beliebten, rund 280 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke im Jahr 2004 erreichen Fahrgäste ihr Reiseziel im allerbesten Fall in nur rund 100 Minuten. Doch auch eine neugebaute Hochgeschwindigkeitsstrecke kommt schnell in die Jahre. Erst recht, wenn sich Fernverkehr, Regionalzüge und der Gütertransport Tag und Nacht denselben Schienenstrang teilen müssen und den Verkehrsweg einer hohen Dauerbelastung aussetzen. Aktuell bedeutet das: Generalsanierung! Und dafür kommt es zur Vollsperrung der wichtigen, hochfrequentierten Verkehrsachse. Neun Monate, seit August 2025 bis Ende April 2026. Bedeutet: Zeitraubende Umleitungen der Fernzüge, umständlicher Busersatzverkehr im Regionaldienst.
Klar, die Vollsperrung erlaubt ungehindertes und damit schnelleres Bauen. Außerdem könnte die Strecke komplett mit neuester Technologie ausgerüstet werden. Könnte, das muss man betonen. Das wichtigste Modul wäre das europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System). ETCS ist eine digitale Signaltechnik, die herkömmliche Streckensignale ersetzt. Sie überträgt zum Beispiel Fahrbefehle und Geschwindigkeitsbegrenzungen direkt an den Führerstand, sodass der Lokführer präziser fahren kann. Durch die Echtzeitkommunikation zwischen Zügen und Infrastruktur verbessert ETCS die Sicherheit, erhöht die Zuverlässigkeit und steigert die Kapazität des vorhandenen Schienennetzes.

Doch dieser Fortschritt muss auch zwischen Hamburg und Berlin noch ein paar Jahre warten, bis er nutzbar wird. Der Hintergrund: Die Deutsche Bahn hat kürzlich bei einem anderen Großprojekt, der Riedbahn, erlebt, wie komplex und zeitaufwändig die Montage und Abnahme der ETCS-Technik als Doppelausrüstung mit den konventionellen Sicherungssystemen ist. Daher wird die Bahn während der Generalsanierung der Strecke Hamburg–Berlin die Stellwerke sowie die sicherheitsrelevante Achszähltechnik (Sensoren, die melden, ob ein Gleisabschnitt frei ist) „nur“ auf den zukünftigen Einsatz von ETCS vorbereiten. Das heißt: Die konventionellen Zugsicherungssysteme PZB (punktförmige Zugbeeinflussung) und LZB (linienförmige Zugbeeinflussung) bleiben vorerst weiter in Betrieb. Die Ausrüstung mit ETCS wird erst in den frühen 2030er-Jahren erfolgen.
Verkehrswende als Agenda

Strategie der kleinen Schritte
Immerhin: Mit der Strategie der kleineren Schritte geht es technologisch in Richtung Zukunft. Zwar mit gedrosseltem Tempo, jedoch mit den passenden Vorbereitungen. Bis in den 2030er-Jahren dann alle Voraussetzungen geschaffen sind, können die Deutsche Bahn und andere Eisenbahnverkehrsunternehmen ihre Bestellungen und Konfigurationen neuer Züge besser planen. Benötigt werden dann ETCS-fähige Fahrzeuge. Würde schon heute auf ETCS umgestellt, müssten viele der vorhandenen Fahrzeuge eine kostenintensive Doppelausrüstung erhalten – mit ETCS zusätzlich zu den herkömmlichen Sicherungs- und Beeinflussungssystemen.

Die digitale Aufrüstung ihrer Flotten müssen die in Deutschland aktiven Eisenbahnverkehrsunternehmen selbst bezahlen. Der Staat finanziert die Infrastruktur, also die Technik entlang der Schiene. Mit zunehmender Digitalisierung verlagern sich Kosten allerdings immer mehr auf die Fahrzeuge. Doch im Transitland geht es nicht nur um deutsche Flotten. Die Strecken müssen ETCS-fähig werden, weil zum Beispiel durchreisende Züge aus Frankreich oder Tschechien bereits auf die moderne Technik ausgelegt sind. Und die staatliche italienische Gesellschaft Trenitalia will mit dem schnittigen roten Hitachi-Flagschiff ETR 1000 schon im Jahr 2026 bis München fahren, ab 2027 bis Berlin.
Für Hitachi Rail ist genau dieses komplexe Szenario der perfekte Anwendungsfall: Das Unternehmen begleitet aktuell vor allem die Transformation in Richtung digitaler Signaltechnik. Aber das ist nur der erste Schritt. Hitachi Rail kann und will aus dem Portfolio des Großkonzerns komplette Systeme liefern, inklusive Energieversorgung der Bahnelektrifizierung und hochmoderner Züge. Volles Sortiment! Einer der ersten wesentlichen vorbereitenden Schritte ist das Projekt Hamburg-Berlin: Der Netzbetreiber, die Bahn-Tochtergesellschaft DB InfraGO AG, hat mit Hitachi Rail einen Vertrag geschlossen. Der beinhaltet die Modernisierung der Leit- und Sicherungstechnik (LST) auf einem 200 Kilometer langen Abschnitt zwischen den Orten Paulinenaue und Schwanheide. Unterzentralen von großen Stellwerksbereichen werden erneuert, Stellwerktechnik modernisiert. Danach soll die Strecke Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 230 Kilometern pro Stunde erlauben. Das Projekt gehört zum Programm „Digitale Schiene Deutschland“. Es soll Sicherheit, Effizienz und Nachhaltigkeit des Bahnverkehrs verbessern und dazu beitragen, die Ziele des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-T) zu erreichen.
TEN-T, ausgeschrieben „Trans-European Transport Network“, wird von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten finanziert. Entwickelt werden soll ein zusammenhängendes Netz von Straßen, Eisenbahnen, Binnenwasserstraßen, Seehäfen, Flughäfen und Bahnhöfen innerhalb der Europäischen Union. Ziele sind die Stärkung des Binnenmarktes, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Verbesserung der Vernetzung der Regionen.
Von der Taktzeit bis zum Anschlusskonflikt

Mit Blick auf das riesige, rund 33.000 Kilometer lange deutsche Schienennetz ist für Markus Fritz die zentrale Frage: „Wie bekomme ich die maximale Kapazität auf die bestehende Infrastruktur?“ Der Experte weiß: „Es werden nicht mehr Gleise gebaut. Wir brauchen höhere und verlässliche Taktzeiten auf der vorhandenen Infrastruktur“. Anders gesagt, die Zahl der Abfahrten pro Stunde muss steigen. Und der Fahrplan soll so störungsfrei wie möglich eingehalten werden. „Mit ETCS, mit digitalen Stellwerken und einem integrierten Leit- und Bediensystem als Schnittstelle zwischen Menschen und Maschinen können wir das schaffen“, sagt Fritz. Außerdem könnten Fahrpläne durch den Einsatz künstlicher Intelligenz deutlich optimiert werden. Dazu gehören auch die sogenannten „Anschlusskonflikte“, ein Dauerthema: Wegen Verspätungen oder Störungen erreichen Umsteiger den nächsten Zug nicht mehr. Auch hier sieht Fritz fahrgastfreundliche Lösungen mithilfe künstlicher Intelligenz.

Bei aller Geduld und Verständnis für Komplexität und Komplikationen: Auf den Zug in die Zukunft will auch Markus Fritz nicht länger als unbedingt nötig warten. Das Engagement von Hitachi Rail soll spürbar wirken und das Vollsortiment im Fokusmarkt Deutschland bald sichtbar werden. „Wir arbeiten daran, dass morgen Fahrzeuge von Hitachi bei deutschen Bahnbetreibern fahren, ganz klar. Und morgen ist hoffentlich schneller als wir es uns alle vorstellen können“, sagt Fritz.

Das Rennen hat begonnen
