Life Sciences

Abnehm-Spritze:
Medizin für den Markt

Mühelos abnehmen – diesem Ideal helfen inzwischen weltweit viele Menschen mit der Abnehmspritze nach. Zeitweise soll es sogar Lieferengpässe für die GLP-1-Analoga (veränderte Darmhormone) gegeben haben. Der Erfolg der Spritze interessiert jetzt auch Industriezweige außerhalb des Gesundheitswesens.

10/2024

Mit der Abnehmspritze ändern viele Menschen ihre Lebensgewohnheiten, insbesondere bei der Ernährung. Deshalb entwickeln sich außerhalb der Pharmaindustrie neue Marktchancen mit großen Erwartungen an die Nachfrage.Porsche Consulting/Thomas Kuhlenbeck

Tere­sa O’Connor hat Hoff­nung geschöpft. Jah­re­lang hader­te die 36-jäh­ri­ge Kran­ken­pfle­ge­rin aus dem kana­di­schen Edmon­ton mit ihrem Über­ge­wicht. Zu ihrem Schutz hat die Redak­ti­on ihren Namen geän­dert. Die Per­son ist real. O’Connor trai­nier­te fast jeden Tag im Fit­ness­stu­dio, ging regel­mä­ßig spa­zie­ren oder jog­gen. Doch die über­flüs­si­gen Pfun­de hiel­ten sich hart­nä­ckig und in ihrem Blut zeig­ten sich erste Anzei­chen von Dia­be­tes. Ihr Arzt ver­schrieb ihr kur­zer­hand Ozem­pic, ein Dia­be­tes-Medi­ka­ment, das auch als Abnehmsprit­ze genutzt wird. Schon nach den ers­ten Injek­tio­nen zeig­te sich: Es funk­tio­nier­te. Ihr Blut­zu­cker ist wie­der im grü­nen Bereich und sie nimmt end­lich ab.

O’Connors Geschich­te ist eine von vie­len. Hun­dert­tau­sen­de Men­schen welt­weit set­zen auf Arz­nei­mit­tel aus der Grup­pe der GLP-1-Ana­loga, um Gewicht zu ver­lie­ren. In den USA, wo die Rate an über­ge­wich­ti­gen oder gar adi­pö­sen Men­schen beson­ders hoch ist, soll bereits jeder achte Erwach­se­ne ein sol­ches Mit­tel ver­schrie­ben bekom­men haben, obwohl es noch gar nicht so lange ver­füg­bar ist. Die Resul­ta­te sind erstaun­lich: Erst­mals seit Jahr­zehn­ten sinkt die Adi­po­si­tas-Rate in den USA, anstatt zu steigen.

Verkaufszahlen schießen in die Höhe

Der Wirk­stoff ähnelt dem kör­per­ei­ge­nen Hor­mon GLP‑1 und bin­det an des­sen Rezep­tor. Dadurch wird der Kör­per dazu ange­regt, mehr Insu­lin her­zu­stel­len, was den Blut­zu­cker­spie­gel sta­bi­li­siert. Außer­dem ver­lang­samt sich die Magen­ent­lee­rung und das Hun­ger­ge­fühl wird schwä­cher. Weil das künst­li­che Hor­mon im Kör­per sehr lang­sam abge­baut wird, wirkt es län­ger und inten­si­ver als natür­li­ches GLP‑1. Schät­zun­gen zufol­ge lei­den schon heute eine Mil­li­ar­de Men­schen an Adi­po­si­tas. Stu­di­en zei­gen, dass die­je­ni­gen, die Ozem­pic und ver­gleich­ba­re GLP-1-Prä­pa­ra­te abset­zen, ihre ver­lo­re­nen Pfun­de schnell wie­der zule­gen. Viele Medi­zi­ner sehen die GLP-1-Ana­loga daher als lebens­lan­ge Behand­lung an.

Die Phar­ma­fir­men mit GLP‑1 im Port­fo­lio stei­gern ihre Umsät­ze. Und zugleich ihre Bewer­tung an der Börse. Novo Nor­disk zum Bei­spiel, ein welt­weit füh­ren­der Phar­ma­her­stel­ler mit Sitz in Däne­mark, ist inzwi­schen das wert­volls­te Unter­neh­men Euro­pas. Neben Ozem­pic, das seit 2017 als Arz­nei für Dia­be­ti­ker ver­füg­bar ist, hat Novo Nor­disk 2021 unter dem Mar­ken­na­men Weg­ovy den glei­chen Wirk­stoff Semaglut­id in höhe­rer Dosie­rung als Medi­ka­ment für Über­ge­wich­ti­ge auf den Markt gebracht. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Firma Eli Lilly bie­tet unter den Han­dels­na­men Moun­ja­ro und Zep­bound eben­falls GLP-1-Ana­loga an. Zahl­rei­che ande­re Phar­ma­fir­men sind auf­ge­sprun­gen. Sie inves­tie­ren in die Ent­wick­lung wei­te­rer GLP-1-Medi­ka­men­te, dar­un­ter Boeh­rin­ger Ingel­heim und Pfi­zer.

Pharma als Booster für Lebensmittel

„Dabei ist die Phar­ma­bran­che nur eine von vie­len, die die­sen Boom erle­ben“, sagt Lochan Kon­ge­ra, Con­sul­tant für den Han­del und die Kon­sum­gü­ter­in­dus­trie bei der Manage­ment­be­ra­tung Por­sche Con­sul­ting. Auch die Lebens­mit­tel­in­dus­trie wird sich auf eine neue Grup­pe von Kon­su­men­ten ein­stel­len. Denn wer GLP-1-Medi­ka­men­te nimmt, kauft meist auch im Super­markt anders ein als frü­her. GLP-1-Anwen­der essen eige­nen Anga­ben zufol­ge nicht nur 20 bis 35 Pro­zent weni­ger Kalo­rien als frü­her. Sie wäh­len auch ande­re Nah­rungs­mit­tel aus. Snacks, Chips, Soft­drinks und Süßig­kei­ten las­sen sie häu­fi­ger links lie­gen. Statt­des­sen grei­fen sie ver­mehrt zu Obst, Gemü­se und pro­te­in­hal­ti­gen Nah­rungs­mit­teln. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Super­markt­ket­te Walm­art, die über ihre haus­ei­ge­nen Apo­the­ken auch Ozem­pic und ähn­li­che Prä­pa­ra­te ver­kauft, kann das anhand von Kun­den­da­ten gut nach­voll­zie­hen. Als der CEO von Walm­art die­sen Umstand in einem Inter­view ansprach, hatte das Fol­gen bis an die Börse: Die Akti­en­kur­se der Geträn­ke­gi­gan­ten Coca-Cola und Pep­si­Co sack­ten ab. Die Bör­sia­ner befürch­te­ten, dass der Umsatz der zucker­hal­ti­gen Geträn­ke auf­grund des Ozem­pic-Booms abflau­en könnte.

„Lebensmittelhersteller sollten umdenken, wenn sie vom neuen Abnehmtrend profitieren wollen“, sagt Lochan Kongera, Consultant für den Handel und die Konsumgüterindustrie bei Porsche Consulting.Porsche Consulting

Konzerne kaufen ein

„Die Her­stel­ler müs­sen umden­ken, wenn sie von die­ser neuen Ziel­grup­pe pro­fi­tie­ren wol­len“, so Kon­ge­ra. Sei es durch die Ent­wick­lung eige­ner neuer Pro­duk­te oder die Erwei­te­rung des Port­fo­li­os durch stra­te­gi­sche Über­nah­men. Eini­ge große Kon­zer­ne waren bereits auf Ein­kaufs­tour und haben sich klei­ne­re Unter­neh­men ein­ver­leibt, um zukünf­tig noch bes­ser an gewichts- und gesund­heits­be­wuss­te Kund­schaft her­an­zu­kom­men. Mars kauf­te Kevin’s Natu­ral Foods, einen Her­stel­ler von Fer­tig­ge­rich­ten und Sau­cen. Nest­lé holte sich den Löwen­an­teil an Yfood, einem Start-up aus dem süd­deut­schen Mün­chen, das äußerst erfolg­reich pro­te­in- und bal­last­stoff­rei­che Ersatz­nah­rung in Form von Rie­geln, Pul­vern oder Shakes ver­kauft. Eine Neben­wir­kung der Abnehmsprit­ze ist der Ver­lust von Mus­kel­mas­se. Eine erhöh­te Pro­te­in­zu­fuhr soll die­sen uner­wünsch­ten Effekt abmil­dern. „Daher haben Fir­men einen Start­vor­teil, die bereits lange vor dem Ozem­pic-Hype spe­zi­el­le Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel und pro­te­in­rei­che Pro­duk­te in ihr Port­fo­lio auf­ge­nom­men haben“, erklärt Joey Wil­son, Exper­te für den Bereich Life Sci­en­ces bei Por­sche Consulting.

„Nahrungsergänzungsmittel und proteinreiche Produkte bekommen einen Nachfrageschub“, prognostiziert Joey Wilson, Senior Expert Life Sciences bei Porsche Consulting. Porsche Consulting

So ver­trei­ben bei­spiels­wei­se euro­päi­sche Lebens­mit­tel­her­stel­ler wie Dano­ne und Dr. Oet­ker schon lange erfolg­reich Joghurt, Pud­ding oder gekühl­te Kaf­fee­spe­zia­li­tä­ten mit erhöh­tem Pro­te­in­ge­halt. In der Wer­bung für diese Pro­duk­te wird die Abnehmsprit­ze bis­her nicht direkt ange­spro­chen. Aber das könn­te sich ändern. „Ein neu aus­ge­rich­te­tes Mar­ke­ting könn­te dabei hel­fen, gezielt diese neue Inter­es­sen­grup­pe anzu­spre­chen“, sagt Wil­son. Der Schwei­zer Welt­kon­zern Nest­lé hat im Mai 2024 sogar eine neue Marke ins Leben geru­fen, die sich direkt an Kund­schaft rich­tet, die GLP‑1 zur Gewichts­re­du­zie­rung nutzt. Unter dem Namen Vital Pur­su­it wer­den tief­ge­fro­re­ne, ein­zeln por­tio­nier­te Mahl­zei­ten ange­bo­ten, die sich durch einen erhöh­ten Gehalt an Pro­te­inen, Bal­last­stof­fen und essen­zi­el­len Nähr­stof­fen auszeichnen.

Kein Hunger – ein Gesundheitsrisiko?

Weil GLP-1-Ana­loga das Hun­ger­ge­fühl dras­tisch sen­ken, lau­fen Men­schen Gefahr, nicht mehr alle nöti­gen Nähr­stof­fe zu sich zu neh­men. „Die Leute essen weni­ger, aber sie essen nicht auto­ma­tisch das, was ihr Kör­per braucht“, so Wil­son. Seine Pro­gno­se: „Das eröff­net den Markt für neue Pro­duk­te, die dem poten­zi­el­len Vit­amin- und Nähr­stoff­man­gel etwas ent­ge­gen­set­zen sol­len, wie Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel oder Nut­raceu­ti­cals.“ Her­stel­ler Nest­lé for­mu­liert die Inter­es­sen sei­ner Kund­schaft in einer Pres­se­infor­ma­ti­on so: „Men­schen, die aktiv ihr Gewicht ver­än­dern wol­len, legen mög­li­cher­wei­se einen grö­ße­ren Fokus auf Por­ti­ons­kon­trol­le und Nähr­stoff­ba­lan­ce ihrer Nah­rungs­mit­tel, wäh­rend sie gleich­zei­tig groß­ar­ti­gen Geschmack und leich­te Ver­füg­bar­keit erwar­ten.“ Zunächst ist das Pro­dukt Vital Pur­su­it aus­schließ­lich in den USA erhält­lich. Das könn­te sich jedoch schnell ändern.

Die Abnehm-Vor­ma­cher von Weight­Wat­chers haben ein neues Pro­gramm für die GLP-1-Nut­zer­schaft ent­wi­ckelt. Und die Koch­box Daily Har­ve­st lie­fert neu­er­dings Zuta­ten für Gerich­te, die spe­zi­ell auf die Nähr­stoff­be­dürf­nis­se die­ser Men­schen zuge­schnit­ten sein sol­len. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Han­dels­ket­te GNC, die auf Vit­ami­ne und Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel spe­zia­li­siert ist, bewirbt auf ihrer Web­sei­te daher Pro­duk­te spe­zi­ell für Men­schen, die auf die Abnehmsprit­ze set­zen. Und Nest­lé hat einen eige­nen Online-Shop namens GLP-1Nu­tri­ti­on ins Leben geru­fen, der eben­falls die­sen Kon­su­men­ten­kreis direkt anspricht.

GLP-1-Ana­loga haben, wie die meis­ten Medi­ka­men­te, Neben­wir­kun­gen. Neben Risi­ken wie Mus­kel­schwund und der Gefahr von Nähr­stoff­man­gel gibt es Berich­te über Übel­keit, Durch­fall oder Ver­dau­ungs­pro­ble­me. „Medi­ka­men­te, die diese uner­wünsch­ten Neben­wir­kun­gen abmil­dern sol­len, könn­ten daher eben­falls vom Boom pro­fi­tie­ren“, so Joey Wil­son. Die Indus­trie erkennt, dass es eine neue Ziel­grup­pe gibt, die mit der Zeit wohl eher wach­sen als schrump­fen wird. Der Wett­lauf um diese neue Kund­schaft hat eigent­lich erst ange­fan­gen. „Zur­zeit ist der Markt weit offen für neue Pro­duk­te, bei denen Gesund­heit im Mit­tel­punkt steht“, sagt Lochan Kon­ge­ra. „Wer am Ende das Ren­nen macht, bleibt abzuwarten.“

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